RELING Blog

„Unsere Blog-Autorin Maren Albertsen ist studierte Kulturwissenschaftlerin und Sozialpädagogin und arbeitete bis September 2020 als Redakteurin für verschiedene Verlage und Unternehmen, darunter mehrere Jahre für das Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. Seit September 2021 arbeitet sie in Teilzeit bei der RELING.“


  • Die Sache mit dem Geld

    Neulich hörten wir sie wieder. Die Frage, die anscheinend viele Menschen in Hamburg beschäftigt. Menschen, die hinschauen, hinhören, die in ihrer Nachbarschaft, auf ihrem Arbeitsweg oder an öffentlichen Plätzen bedürftige Mitmenschen wahrnehmen. Die meisten davon zurückhaltend, einfach nur „da-seiend“, sitzend, ruhig. Andere bettelnd, Passanten direkt um eine Spende bittend. Darauf reagieren manche genervt, andere großzügig. Und viele verunsichert. Sie fragen sich (und manchmal auch uns): „Soll ich Geld geben?“

    Verbunden mit dieser Frage ist oft der Wunsch, „sinnvoll“ zu helfen. Und die Befürchtung, die Person, der das Geld gegeben wird, könnte es eben nicht „sinnvoll“ verwenden – sondern beispielsweise für Alkohol ausgeben. „Und sowas will ich nicht unterstützen!“ Das ist okay, das muss man auch nicht unterstützen. Wenn man sich unwohl fühlt bei dem Gedanken, dass gespendetes Geld für Alkohol oder andere Suchtmittel ausgegeben wird, muss man nicht gegen dieses Gefühl handeln.

    Aber man muss respektieren, dass die Person, der man überlegt Geld zu geben, ihre eigenen Bedürfnisse hat: Sie kann und darf und soll selbst darüber bestimmen, was sie mit Geld, das sie erhält, tut. Das Recht, einer Person ein paar Münzen in die Hand zu drücken, verleiht einem nicht das Recht, ihr auch einen Lebensentwurf aufzudrücken.

    Heißt: Wenn Geld, dann bitte nicht verbunden mit Regeln, was damit gekauft werden „darf“ und was nicht. Wenn Geld, dann bedingungs- und belehrungsfrei. Wenn Geld, dann weil man es gerne geben möchte. Weil man der Person in diesem Augenblick einfach eine kleine Freude machen will – und weil auch diese kleine Freude „sinnvoll“ sein kann.

    Aber warum lautet die Frage überhaupt: „Soll ich Geld geben?“ Wie wirksam, die Situation der bedürftigen Person nachhaltig verbessernd kann dieses Geld geben sein? Sinnvoll und schön für beide Seiten kann auch ein ganz anderes Geben sein: Ein freundlicher Gruß, ein herzliches Lächeln, ein kleiner Schnack, eine besorgte Nachfrage: „Moin, wie geht’s?“ „Alles gut bei dir heute?“ „Weißt du, wo du heute eine warme Mahlzeit bekommst?“  Was Adressen zur Grundversorgung wie Essensausgaben, Duschmöglichkeiten und medizinische Versorgung angeht, findet man alle tagesaktuellen Infos übersichtlich aufgelistet unter www.strassenhilfe-hamburg.de. Mit einem Blick auf diese Website kann Jede*r schnell und unkompliziert Nothilfe und wichtige Verweisarbeit leisten.

    Und wer einem Obdachlosen persönlich etwas geben möchte, etwas anderes als Geld, fragt am besten nicht sich selbst, was am sinnvollsten wäre – sondern die betreffende Person: „Soll ich dir einen Kaffee mitbringen?“ „Hast du Appetit auf ein Franzbrötchen?“ Denn gut gemeint – jemandem ungefragt ein Sandwich in die Hand drücken – ist nicht immer gut gemacht. Vielleicht hat die Person gerade keinen Appetit, vielleicht hat sie eine Allergie gegen bestimmte Lebensmittel. Da ist Frust dann oft vorprogrammiert: Auf der einen Seite, weil man etwas bekommen hat, was man gar nicht wollte – und auf der anderen Seite, weil auf die vermeintlich gute Gabe „undankbar“ reagiert wurde.

    Am Anfang sollte deshalb der Austausch stehen. Das Abklären, was wirklich gewünscht ist, womit man in der konkreten Situation am besten unterstützen kann. Soll ich also Geld geben? Oder doch lieber Informationen, bestimmte Lebensmittel, ein offenes Ohr? Das herauszufinden, macht aus einem kurzen Kontakt eine bereichernde Begegnung. Und aus einer Spende ein Geschenk, das sich für beide Seiten auch so anfühlt: Etwas, das von Herzen kommt – und das das Herz des Gegenübers erreicht.

    Maren Albertsen


  • Echt jetzt

    Echt jetzt

    Tränen. Echt jetzt? Echt jetzt.

    Dabei hatten wir den Mann, der uns kürzlich zum ersten Mal in der RELING besuchte, doch nur freundlich begrüßt, ein bisschen geschnackt und gefragt, ob er zum Kaffee noch eins von den Lunch-Paketen haben möchte, die wir freitags anbieten. Doch zu einer Antwort war er nicht fähig. Stattdessen begann er zu weinen.

    Hatten wir etwas falsch gemacht? „Nein, nein“, sagte er beschämt. Er wäre nur gerade etwas überfordert. Von unserer Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Davon wahrgenommen und gehört zu werden. „Das passiert mir momentan nicht oft.“

    Seit er „aus Gründen“ auf der Straße gelandet ist, fühle er sich meistens unsichtbar. „Und das sind dann schon die guten Tage.“ An schlechten Tagen werde er mit verachtenden Blicken angeschaut oder beschimpft, einmal wurde er auch bespuckt. Warum? Weil er da ist. 

    Weil sein Leben draußen stattfindet, zurzeit dort stattfinden muss – und sich viele Menschen das Recht herausnehmen, ihn dafür abzuwerten und zu verurteilen. Weil er oft mit der U-Bahn fährt und dort nach Kleingeld fragt. Weil er mit müffelndem Schlafsack und dreckiger Isomatte unterwegs ist, obwohl er doch bis April ins Winternotprogramm könnte.

    Dort war er auch. Für drei Nächte, dann hielt er es nicht mehr aus. Er ist nicht der Einzige, der von Problemen dort berichtete, von Läusen und Krätze, Klauerei und Gewalt. Weshalb viele Obdachlose – wie jedes Jahr – trotz Kälte, Schneematsch, Sturm, Dauerregen die Straße vorgezogen haben.

    Abschreckend sei nicht „nur“ das Elend auf engem Raum und die dadurch angestauten Aggressionen. Abschreckend sei auch, jeden Morgen wieder „rausgeschmissen“ zu werden.  Oder, wie ein anderer Besucher es formulierte: „Was hilft eine Bleibe, in der man nicht bleiben darf?“ Und die keinerlei Perspektive bietet: Wir haben noch von keiner unserer Besucher*innen gehört, dass sie nach Ende des Winternotprogramms in eine Unterkunft vermittelt werden konnten. „Bald bleibt uns – wieder – nur die Straße.“

    Und was uns bleibt, ist Unverständnis. Gegenüber einer halbherzigen Bekämpfung von Symptomen – anstelle einer Beendigung von Ursachen. Aber hey, immerhin müssen wir jetzt nur noch sechs Jahre lang jammern: Die EU will Obdachlosigkeit bis 2030 schließlich abschaffen.

    Haha, genau – man wird ja noch träumen dürfen…

    Doch die Realität ist eher ein Alptraum. Von einem Masterplan gibt es keine Spur. Bleibt zu hoffen, dass die beschlossenen Pläne von der Sozialbehörde und dem Bezirk Mitte zur Umgestaltung des Drob-Inn-Vorplatzes und zur Bereitstellung von 16 Übergangswohnungen für Obdachlose in Niendorf zumindest ein Anfang sind.*  

    Ach, wie schön das wäre, endlich von weiteren, nachhaltigen Maßnahmen sprechen zu können. Vom großen Wurf der Regierung. Bis es soweit ist, startet die „RELING“ schon mal einen kleinen Wurf – Richtung Akzeptanz und Mitmenschlichkeit.

    Und wenn bei Besucher*innen mal Tränen kullern müssen, müssen sie kullern – da muss sich keiner schämen. Echt jetzt.

    * https://www.hinzundkunzt.de/hauptbahnhof-weitere-verbote-hilfsangebote-obdachlose-drob-inn/

    Maren Albertsen


  • Bereit

    Bereit

    Es ist so weit: Sie ist so weit.

    Zumindest war sie das kürzlich, als wir sie auf unserer StraSo-Runde trafen. Sie war so weit, den Ernst ihrer Alkohol- und Drogensucht zu erkennen, ihre Probleme offen auszusprechen – und um Hilfe zu bitten. Für eine neue Perspektive im neuen Jahr. Die junge Frau aus Rumänien, die seit längerer Zeit immer mal wieder mit verschiedenen Anliegen zur RELING kommt. „Bitte“, sagte sie verzweifelt, „bitte eine Therapie. Muss!“

    Ja, das muss sie. Das müsste sie. Eine Therapie machen, einen qualifizierten Entzug. Und wir alle, die Gesellschaft, der Staat, wir müssten sie dabei unterstützen, oder? Sie, genauso wie jeden, der den Kreislauf von Armut, Ausgrenzung, Alkohol durchbrechen will. Der für seine Gesundheit kämpfen will, und vielleicht, ganz vermessen, auch für ein kleines Stück vom Glück.

    Aber ohne Krankenversicherung? Ohne Anspruch auf Sozialleistungen? Sorry, keine Chance! Wie bitter. Wie bitter für alle Betroffenen. Für die vielen osteuropäischen Obdachlosen in Hamburg, die durch solche Gesetzesvorgaben auf der Strecke bleiben – beziehungsweise auf der Straße.

    Und wie bitter auch für alle, die helfen wollen. Die stattdessen Nachrichten überbringen dürfen wie: „Toll, dass du so weit bist. Unser Staat ist es allerdings nicht. Obwohl er sich Sozialstaat nennt.“ Die höchstens noch Flyer mit Infos zu Suchtberatungsstellen oder Selbsthilfegruppen verteilen können. Und zusehen müssen, wie es zurück in den Kreislauf geht. Das macht traurig. Und wütend.

    Denn verstehen können wir es nicht. Dass suchtkranke Menschen, die in unserem Land, in unserer „Wir-sind-die-offene-Tor-zur-Welt-Stadt“ leben, nicht grundsätzlich das Recht auf eine professionelle, psychologisch-betreute Entgiftung und Rehabilitation haben.

    Genauso wenig verstehen wir, warum Housing First bei uns weiterhin nur ein Modellprojekt ist, dazu noch geknüpft an mehrere Bedingungen wie Leistungsberechtigung. Vielmehr sollte Housing Forst bei uns selbstverständlich sein und seiner Grundidee gerecht werden: Dass obdachlosen Menschen bedingungslos – und mit bedarfsgerechter Unterstützung – eine Wohnung erhalten. Damit sie von diesem geschützten Raum aus langsam wieder Fuß fassen, körperlich und psychisch gesunden, Teilhabe erfahren und nach Arbeit suchen können – und so letztlich unabhängig von finanziellen Leistungen werden.

    Alles viel zu teuer? Wer soll das bezahlen? Gegenfragen: Was kostet es denn, immer wieder einen Krankenwagen für stark alkoholisierte Menschen zu rufen? Was kostet es, immer wieder Krankenhausaufenthalte von geschwächten, verletzten Obdachlosen zu finanzieren? Was kostet es, Notunterkünfte und das Winternotprogramm bereit zu stellen und mit immer mehr Security-Personal auszustatten? Was kostet es, immer wieder Gefängnisaufenthalte von Obdachlosen zu bezahlen, die ihre Geldstrafen fürs Schwarzfahren nicht bezahlen können?

    Kurz: Was kostet es uns, den Kreislauf von Armut, Ausgrenzung und Alkohol immer weiter aufrechtzuerhalten? Und was würde es uns demgegenüber kosten, menschlich zu sein?

    Denn: Es geht hier nicht um irgendwelche Zahlen. Es geht um Menschen. Egal, aus welchem Land. Egal, mit welchen rechtlich gültigen Ansprüchen. Den Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein sollte, nein muss, jeder Mensch haben. Genauso wie auf sinnvolle, nachhaltige Hilfskonzepte. Die sich am Ende selbst überflüssig machen. Weil sie erfolgreich waren. Weil sie den Kreislauf durchbrochen haben.

    Wir wären so weit. Wer noch?

    Maren Albertsen


  • Ein bisschen mehr Alles

    Ein bisschen mehr Alles

    Alles oder Nichts.

    Manchmal steht nur ein Wort dazwischen. Manchmal geht es ganz schnell. Eine Krankheit, ein Verlust, ein Unfall – und alles, was zählt(e), ist weg: die große Liebe, der sicher geglaubte Job, das vertraute Zuhause. Was dann bleibt, ist ein großes Nichts.

    Unsere Gäste wissen, wie sich das anfühlt. Plötzlich alles zu verlieren. Auf der Straße zu sein. Allein zu sein. Jeder Tag ein Kampf. Für sich selbst, oft auch gegen sich selbst. Jeder Tag ein Überleben – um irgendwann wieder zu leben.

    So wie der junge Mann, der uns kürzlich das erste Mal besuchte. Aus Marokko stamme er, lebe aber schon länger in Hamburg: „Immer gearbeitet, immer alles normal.“ Aber vor ein paar Wochen: „Kam das Schicksal, kam ein Schlag, peng! Schicksalsschlag.“ Darum sei er „von jetzt auf gleich“ obdachlos und mit der Situation komplett überfordert. Vor allem mit der Bürokratie, von allem, was er jetzt erstmal machen muss, bevor er wieder etwas machen darf. Aber auch mit der Abwertung, die er im Alltag erlebt, dem Gefühl, nur noch eine Last zu sein. Nicht mehr dazuzugehören, zu den „normalen“ Menschen.

    Doch zum Glück gibt es (noch?) „normale“ Menschen, denen das nicht egal ist. Die ihre eigenen Sorgen, ihren eigenen, vollgepackten Alltag haben – die aber trotzdem hinschauen. Die sehen, dass eine Politik der Vertreibung, Verdrängung und Verbote keine Probleme löst. Die durch kleine Taten einen großen Unterschied machen im Leben von Obdachlosen. Und die das Nichts damit für eine Weile vergessen machen.

    So wie der Angestellte einer öffentlichen Toilette, der mit drei Gästen von uns, die zusammen „Platte“ machen, ins Gespräch gekommen ist. Er nahm sich Zeit, ihre Geschichte anzuhören. Genau, wie sie sich Zeit nahmen, seine Geschichte anzuhören. Jetzt lässt er sie umsonst die Anlage benutzen – die sie „natürlich!“ blitzblank hinterlassen.

    „Wisst ihr eigentlich, was das für ein Geschenk ist, auf ein sauberes Klo gehen zu können?“, fragte uns die Frau des Trios kürzlich. „Das ist Lebensqualität. Aber sowas von!“ Sauberkeit ist ihnen generell sehr wichtig – gerade, weil sie auf der Straße schlafen. Deswegen haben sie sich auch einen Besen besorgt: „Wir putzen unseren Platz jeden Tag.“

    Saubermachen, aufräumen, Müll rausbringen: Das macht jetzt auch ein weiterer RELING-Besucher öfter – und erhält dafür „mega“ Verpflegung von einem „echt korrekten Typen.“ Von dem hatte unser Gast zunächst allerdings nichts Gutes erwartet. Er hatte in der Nähe eines Cafés gesessen, vor sich einen Pappbecher, aber in sich kaum Hoffnung, dass dieser sich noch mit genügend Kleingeld für eine warme Mahlzeit füllen würde.

    Denn die meisten Menschen gingen achtlos vorbei, einige murmelten Beschimpfungen vor sich hin, über „Gesindel“ und „Penner-Pack“, einer spuckte direkt vor seine Füße. Und dann kam der Café-Besitzer. „Ich dachte erst, er will mich vertreiben“, erinnert sich unser Gast, „doch stattdessen hockte er sich zu mir und fragte, wie es mir geht.“ So begann ein längeres Gespräch – auf Augenhöhe. Das mit der Absprache endete: „Kleine Hilfsarbeiten gegen Speis und Trank.“

    Über solche Geschichten freuen wir uns sehr. Gerne würden wir noch mehr davon hören. Oder Szenen beobachten, wie die von den Wochenmärkten in der Nähe der RELING und in der Neustadt, wo ein Obdachloser schon seit längerer Zeit zuverlässig an einem Kaffeestand beim Auf- und Abbau hilft – was nicht „nur“ mit Geld entlohnt wird, sondern vor allem mit Selbstwirksamkeit, Anerkennung und Zugehörigkeit.

    Das sind Begegnungen, die beide Seiten bereichern. Bei denen aus Problemen Lösungen werden. Ganz unbürokratisch, auf dem kurzen Dienstweg. Auf Basis gegenseitiger Wertschätzung.

    Für weniger Nichts. Und für ein bisschen mehr Alles.

    Maren Albertsen


  • Worum es geht

    Worum es geht

    Durch den Wind war sie. Völlig. Kein Wunder bei dem Sturm an diesem Tag. Aber der hatte damit gar nichts zu tun.

    Eine junge Frau, höchstens Mitte 20. Zerbrechlich wirkte sie, fast schon zerbrochen. Begegnete uns zum Ende unserer StraSo-Runde, schien wie aus dem Nichts zu uns geweht worden zu sein. 

    Gesehen hatten wir sie vorher noch nie. Sie hatte keine Muße für Smalltalk, keine Nerven für langsames Kennenlernen. Fasste aber zum Glück gleich Vertrauen. Und kam direkt zur Sache: Ob wir zufällig Gleitgel ohne Alkohol dabeihätten? Das mit Alkohol würde immer so brennen…

    Sie brauche das Gleitgel dringend, denn: Seit einer Woche lebe sie auf der Straße, würde sich prostituieren.

    Ja, wir wissen, dass so etwas passiert. Natürlich. Wir wissen, dass gerade Frauen auf der Straße besonders schutzlos sind, dass viele sexuelle Gewalt erfahren – und sich eben prostituieren. So etwas zu hören, tut trotzdem jedes Mal verdammt weh. Jede Betroffene ist eine zu viel.

    Was wir aus Reflex am liebsten getan hätten: Ihr Halt gegeben, uns ihre ganze Geschichte angehört, alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie aus dieser Situation zu „retten“. Aber darum ging es ja nicht. Darum geht es nie bei der RELING.

    Es geht nicht um das, was wir als Sozialarbeiter*innen wollen. Oder von dem wir denken, dass es „das Beste“ für andere wäre. Es geht immer um das, was unsere Gäste wollen. Was sie brauchen. Und an diesem Tag, bei der jungen Frau, war es das Gleitgel. Wieviel Mut und Kraft es sie wohl gekostet hat, uns darauf anzusprechen? Wir können es nur erahnen. Und wir sind unendlich dankbar, dass sie diesen Schritt, diesen ersten Schritt gewagt hat. Der bekanntlich der schwerste ist.

    Auch andere Besucher kamen an diesem Tag auf uns zu. Mit ihren Anliegen, Sorgen, auch mit ihrer Wut. Darüber, „mal wieder“ beklaut worden zu sein. Nachts, auf der „Platte“, aber auch in Unterkünften von der Stadt, die ja eigentlich einen Schutzraum darstellen sollen, einen Raum, um sich (und seine Sachen) in Sicherheit zu wissen. „Alles nur bla bla bla“, kommentierte ein Betroffener. „Vorher hatte ich fast nichts, jetzt habe ich komplett nichts. Schönen Dank auch!“

    Ein anderer Betroffener erzählte, dass er die Redewendung „Mein Hab und Gut“ immer gemocht habe, „weil das so klingt, als würde ich etwas haben, dass wirklich mir gehört – und dass das gut ist.“ Aber nach mehreren Jahren auf der Straße empfinde er den Ausdruck als Hohn, denn: „Ich muss jederzeit damit rechnen, dass mir das, was ich habe, weggenommen wird – und dass das niemanden interessiert.“  

    Uns interessiert das. Und uns macht das auch wütend. Immerhin konnten wir ihn noch an eine Kleiderkammer verweisen, bei der er ein paar neue Turnschuhe in 46 („Meine Größe!“)  bekam. Da flossen Freudentränen: „Meine Schuhe wurden nämlich auch geklaut. Großer Fehler, die nachts auszuziehen! Und die, die ich jetzt trage, sind zwei Nummern zu klein…“

    Zu klein, um wichtige Schritte zu gehen. Gut, dass die neuen Schuhe passen. Für Schritte in die richtige Richtung. Wo auch immer die liegen mag. Wir begleiten unsere Gäste gerne dabei. Nehmen Anteil, teilen Annahme.

    Egal, wie stark der Wind weht.

    Maren Albertsen


  • Purzelbaum

    Purzelbaum

    „Nicht irritieren lassen. Einfach weitermachen.“
    Leichter gesagt als getan. Schließlich stört es unseren Beziehungsaufbau zu Obdachlosen und Suchtkranken erheblich, wenn bei der Straßensozialarbeit plötzlich zwei Zivilpolizisten direkt neben uns eine sogenannte anlassunabhängige Personenkontrolle durchführen. So schnell kann mühsam erarbeitetes Vertrauen wieder dahin sein. Vielen Dank auch!

    Nicht irritieren lassen – das sagten wir uns in den vergangenen Wochen öfter. Ein guter Rat, denn Irritationen gab es einige. Ja, es purzelte so manches durcheinander – und das lag nicht nur daran, dass wir als „obdachlose“ RELING ohne eigenes Büro zwischen Jobcenter und Bahnhofsmission hin- und herpendeln mussten. Vorwärts- und Rückwärtsrollen wechselten sich munter ab. Oder, wie eine Kollegin es formulierte: „Ich spüre gerade eine gewisse Dynamik.“

    Rolle vorwärts: Petrus. Er hielt sich an den Deal, den eine RELING-Mitarbeiterin mit ihm vereinbart hatte: „Ich lass mich auf dem Hin- und Rückweg nassregnen, dafür bleibt es während der StraSo-Runde trocken.“

    Rolle rückwärts: Der junge Mann, der uns beschimpfte und vor uns hinspuckte, als wir ihn freundlich ansprachen und auf das Hilfsangebot der RELING aufmerksam machten.

    Rolle vorwärts: Eine ältere Frau, die uns nach längerer Zeit mal wieder besuchte, und die uns mit ihrem fröhlichen „Halloooo meine Kinder!“ begrüßte. „Guckt mal“, sagte sie und zeigte uns ihren frisch verpflasterten Mittelfinger. Auf die Frage, was denn da passiert sei, antwortete sie grinsend: „Ich habe zu tief in der Nase gebohrt.“

    Rolle rückwärts: Ein um Fassung ringender Gast, dessen geliebter Hund vor kurzem gestorben war. Jetzt klammert er sich an die Hoffnung, „dass ich ihn irgendwann im Himmel wiederfinde.“

    Rolle vorwärts: Ein Besucher, der freudestrahlend berichtete, dass er nach langem Pik As-Aufenthalt nun „eeeendlich“ eigene Unterkunft beziehen könne. Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Da könnt ihr dann ja mal mich besuchen…“

    Rolle rückwärts: Es aushalten zu müssen, wie eine junge Frau, die wir schon länger kennen, bei jedem Treffen ein Stück mehr abgebaut hat. Von Mal zu Mal wird sie weniger. „Ich kenne nur vorwärts“ war mal ihr Motto. Jetzt scheint sie nur noch rückwärts zu kennen…

    Rolle vorwärts: Der junge Mann, der erst seinen Kumpels gegenüber auf „cool“ machte, uns gegenüber dann aber schüchtern um Hilfe bat: „Ich traue mich nicht, meine Post zu öffnen. Rechnungen, Mahnungen und so. Ich habe Angst vor dem, was da drinsteht. Können wir das zusammen machen?“ Natürlich. Gerne.

    Rolle rückwärts: Die „Bibel-Leute“, die wieder ausschwärmen. Ein christlicher Verein, unterwegs mit Bollerwagen, um Obdachlose zu ködern – mit schwammigen Versprechungen auf „Heilung“, aber natürlich erst nach gemeinsamen Gebeten und Taufe in der Alster. Halleluja. So viel zum Thema bedingungslose (Nächsten-)Liebe!

    Aber wir bleiben entspannt: Nicht irritieren lassen. Weitermachen. Bedingungslos.
    Bei der RELING kann eben alles passieren. Mal im Guten, mal im Schlechten. Und vielleicht waren die vielen Purzelbäume auch einfach nötig: Einmal alles kräftig durcheinanderschütteln, damit alles wieder seinen Platz findet.

    So wie wir jetzt in der Niedernstr. 122. Unser neuer Heimathafen. Kommt uns doch mal besuchen!

    Maren Albertsen


  • Platz da?!

    Platz da?!

    „Halt geben, ohne festzuhalten“, so das Leitmotiv der RELING. Wir wollen einen geschützten Raum bieten. Einen Ankerplatz. Zum Ankommen, Auftanken, Anpacken.

    Aber ohne Raum ist das schwierig. Ende April mussten wir Segel setzen: Unser Vermieter in der Neustädter Straße hat uns gekündigt. Schon lange vorher hatten wir mit der Suche begonnen. Nach einer neuen Bleibe, möglichst größeren Räumlichkeiten – um dort auch zusätzliche Angebote starten zu können: Eine Tagesaufenthaltsstätte, Duschmöglichkeiten für Besucher*innen, eine Kleiderkammer, Gruppenarbeit…

    Genug freie Flächen gibt es in Hamburg. Auch und gerade in zentraler Lage. So viel Leerstand, so viele Neubauten. Trotzdem hieß es immer wieder: Sorry, kein Platz da. Nicht für euch, nicht für eure „Klientel“.

    Nach langer Suche haben wir nun doch einen Platz zum Andocken gefunden, in der Niedernstraße 122. Leider nicht groß genug, um unsere oben erwähnten Pläne umzusetzen. Und bis wir dort unsere Beratung – voraussichtlich Anfang Juni – tatsächlich starten können, sind wir auch erstmal „haltlos“, und werden abwechselnd vom Jobcenter und von der Bahnhofsmission aus agieren.   

    Aber immerhin: Für uns ist wieder Platz da.

    Anders als für unsere Gäste. Obdachlose und Suchtkranke gelten in Hamburg offenbar zunehmend als Störfaktor.

    Entsprechend setzt die Stadt auf Vertreibung. 140 Platten wurden 2022 mindestens geräumt, Schätzungen der Polizei zufolge sogar mindestens 240.* Die verstärkte Polizeipräsenz rund um den Hauptbahnhof, ZOB und Drob Inn, erschweren unsere Arbeit zusätzlich.

    Bei unseren StraSo-Runden erreichen wir immer weniger Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind – so wird aus „aufsuchender“ Arbeit eine „suchende“ Arbeit.

    Wie Hinz&Kunzt berichtet, hat der Senat die ebenfalls zunehmende Vertreibung von Bettler*innen mittlerweile zugegeben. Begründung für dieses Vorgehen: Die Polizei habe schließlich die Aufgabe, „die negativen Auswirkungen der Obdachlosigkeit für alle Beteiligten im Rahmen der polizeilichen Zuständigkeit so gering wie möglich zu halten.“**   

    Das ist bitter. Da muss man aufpassen, dass man nicht verbittert. Manchmal hilft da nur Sarkasmus. So erzählte ein Gast neulich augenzwinkernd, er habe 2023 „das große Los“ gezogen, genau genommen „sogar dreimal das große Los.“ Was er damit meinte: „Ich bin arbeits-los, obdach-los und ohne-Alkohol-halt-los…“

    Und dann lachte er. Steckte uns mit seiner Fröhlichkeit an. „Wie ihr seht: Humor-los bin ich noch nicht!“ Und zum Glück auch noch nicht mut-los, noch nicht hoffnungs-los. Da können wir als RELING ansetzen. Zuversicht verteilen, Ressourcen stärken, Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Ein bisschen was geben. Und ganz viel zurückbekommen.

    So viel Platz muss sein.

    Maren Albertsen

    * https://www.hinzundkunzt.de/hamburg-setzt-auf-vertreibung/

    **https://www.hinzundkunzt.de/hamburger-senat-rechtfertigt-bettelverbote/


  • Hinschauen

    Hinschauen

    Ich sehe dich.

    Ich sehe dich: Wie du plötzlich schneller gehst, als du mich am Boden entdeckst. Wie du beschämt wegschaust, während du an mir vorbeieilst. Wie du dir innerlich zuredest: „Das ist nicht mein Problem, da sollen sich andere kümmern.“

    Ich sehe dich: Wie du weghörst, als ich freundlich „Moin“ sage. Wie du gedanklich schon bei deiner Familie bist, zu Hause, wo es warm und trocken und sicher ist. Wie du dich innerlich fragst: „Wieso muss der mir das Heile, was ich habe, jetzt kaputt machen?“

    Ich sehe dich: Wie du genervt mit den Augen rollst, als du mich wahrnimmst. Wie du verärgert den Kopf schüttelst, während du mich links liegen lässt. Wie du innerlich fluchst: „Jeden Tag mehr von diesen Pennern!“

    Ich sehe dich: Wie du blitzschnell ein Urteil fällst, als dein Blick mich streift. Wie dein ganzer Körper Verachtung schreit, als du „aus Versehen“ meine Tüte mit Pfandflaschen umkickst. Wie du mich innerlich anbrüllst: „Du Abschaum, hau ab hier!“

    Aber ich habe nichts, wohin ich abhauen kann. Ich sehe dich. Jeden Tag. Hunderte von dir.

    Ich sehe dich. Wie du glaubst, mich bewerten zu dürfen, abwerten zu dürfen. Wie du glaubst, du seist besser als ich, und ich sei schlechter als du – weil ich auf der Straße lebe. Und weil ich Halt manchmal nur an der Wodka-Flasche finde.

    Ich sehe dich. Wie du glaubst, meine Geschichte zu kennen: Keine Disziplin, zu viel gesoffen, Drogen genommen, nicht mehr zur Arbeit gegangen, Schulden gemacht, aus der Wohnung geflogen. Wie du glaubst, sagen zu dürfen: „Du bist selbst schuld!“

    Ich sehe dich. Wie du dir einredest, die Lösung liege auf der Hand: Nichts mehr trinken, neue Arbeit suchen, neue Wohnung suchen. Zackzack. Wie du glaubst, sagen zu dürfen: „Du bist einfach faul!“ Oder: „Du willst ja gar nichts ändern.“

    Ich sehe dich. Wie du nur deine Wahrheit gelten lässt. Wie meine Wahrheit für dich keine Berechtigung hat. Wie du nicht hören willst, dass ich nie eine Chance hatte, nie bedingungslose Liebe erfahren habe. Dass ich kein schützendes Zuhause hatte, nie Unterstützung hatte.

    Wie du nicht hören willst, dass mein individuelles Problem auch ein strukturelles Problem ist. Dass Verhalten und Verhältnisse sich wechselseitig bedingen. Dass das auch dich etwas angeht.

    Ich sehe dich. Wie du die Augen davor verschließt, wie oft ich gefallen bin, wie oft ich gestoßen wurde – und wie oft ich mich trotzdem wieder aufgerappelt habe. Wie du nicht erkennst, dass ich unendlich müde bin. Weil ich Tag für Tag ums Überleben kämpfe, mein Bestes gebe. Wie du mich abgestempelt hast, mich für nutzlos hältst, nicht an mich glauben willst.

    Ich sehe dich. Wie ich für dich kein Teil dieser Gesellschaft bin – und mir deiner Meinung nach deshalb auch keine Teilhabe zusteht. Wie ich für dich nur Dreck bin. Wertlos, würdelos. Unsichtbar.

    Ich sehe dich.

    Siehst du mich auch?

    Maren Albertsen


  • Loslassen

    Loslassen

    Schön war das nicht. Da gibt es nichts zu beschönigen. Zwischendurch Gefühle von Erschöpfung und Frustration. Schwer, sowas loszulassen. So einen Tag.

    Dabei gab es keinen dramatischen Vorfall in der RELING. Es passierte auch nichts Großes während unserer „StraSo“-Runde. Aber viel Kleines, das sich irgendwann summierte. Und im Ergebnis doch groß wurde.

    Vielleicht lag es daran, dass an diesem Tag ungeheurer Andrang herrschte: Fast 60 Gäste kamen zwischen 10 und 15 Uhr zur RELING. Alle mit ihren Geschichten, Sorgen, Fragen. Und ja, auch Ansprüchen. Die manchmal – vorsichtig formuliert – etwas überzogen waren. Hilfe zur Selbsthilfe – das wollen wir fördern. „Ich gehe diesen Weg mit dir“, heißt deshalb unser Motto, „aber ich gehe ihn nicht für dich.“

    Doch nicht jeder Besucher ging an diesem Tag mit. „Ruft mal schnell beim Jobcenter für mich an und klärt das“, hieß es stattdessen im Befehlston. Oder: „Ich brauche jetzt sofort eine Wohnung von euch.“ Oder: „Hier, das sind alles Schreiben zu meinen Schulden. Ihr macht die weg, ja?“

    Geduldig erklärten wir mehrfach, was unser Hilfsangebot ausmacht und umfasst. Dass Probleme, die im Laufe von 20 Jahren angesammelt wurden, nicht mit einem Fingerschnipp beseitigt werden können. Dass es politische und gesetzliche Vorgaben gibt. Dass wir demnach auch „nur“ das Mögliche im Gegebenen leisten können. Und dass die Hauptakteure unsere Gäste selbst sind: Ohne ihre aktive Mitarbeit wird es keine nachhaltige Veränderung geben, keine Verbesserung.

    Doch nicht jeder Besucher konnte (wollte?) das an diesem Tag akzeptieren. „Wozu seid ihr dann da?“, hieß es stattdessen wütend. Oder: „Das ist keine Hilfe. Das ist Sch****!“ Keine schönen Momente für uns. Auch wenn wir wissen, dass diese Worte meist aus purer Not ausgesprochen wurden, aus Verzweiflung.

    Genau wie ein paar Worte mehr, die wir anschließend während unserer Straßensozialarbeit rund um den Hauptbahnhof hörten. Auch dort glaubten anscheinend mehrere Personen, die wir ansprachen, dass gerade „Tag des Loslassens“ war – und sie deshalb ihren Frust und ihren Ängsten am besten uns gegenüber auslassen sollten…

    So schimpfte ein Gast, dass wir ihm nicht ad hoc einen Therapieplatz vermitteln konnten. Und eine Stamm-Besucherin, die sonst immer freundlich grüßte, bemerkte uns gar nicht – sie war zu sehr damit beschäftigt, übers Handy ihren Sohn anzubrüllen, weil der nicht vorbeikommen wollte, um ihre Geld für Drogen zu bringen… „Dann will ich nichts mehr mit dir zu tun haben“, schrie sie aufgebracht. „Du bist nicht mehr mein Sohn!“

    Schlimme Worte. Da muss man sich dann festhalten. An den anderen Worten. Die einen auch berühren, aber im positiven Sinn. Wie die von dem älteren Mann, der bei einem Päckchen Capri-Sonne, das er von uns bekam, sofort ins Schwärmen geriet. Der Geschmack erinnere ihn an seine Kindheit an der See: „Da habe ich immer Capri-Sonne getrunken und den Schiffen hinterhergeschaut. Der Geschmack bedeutete Aufbruch – und Freiheit.“

    Ganz frei und vertrauensvoll berichteten uns zwei andere Gäste von schlimmen Erkrankungen, die sie durchgestanden haben und wie sie daran gewachsen sind: „Mein Motto ist: Egal, wie stark da draußen etwas ist, das mich fertig machen will – ich bin stärker.“

    Eine starke Einstellung, die wir gerne in unsere Herzen übernehmen. Genau wie die Worte einer Besucherin, die uns während StraSo-Runde beschimpft hatte – später aber extra nochmal vorbeikam und erklärte: „Das war eben nicht okay. Ich habe einen Fehler gemacht und bitte um Entschuldigung.“ 

    Wow. Wenn das kein versöhnliches Ende ist. Und den Rest? Let it go – den lassen wir jetzt los.

    Maren Albertsen


  • Rechenspiel

    Rechenspiel

    Hamburg = ca. 2.600 Menschen ohne Obdach[1] + ca. 2.600 Wohnungen ohne Bewohner[2].

    Findet den Fehler!

    Genau, an dieser Gleichung kann etwas nicht stimmen. Und trotzdem ist sie bittere Realität. Es ist immer wieder erschreckend, sich die Zahlen zu Obdachlosigkeit und Leerstand in Hamburg anzuschauen. Erschreckend, weil es dabei eben nicht um Zahlen geht. Sondern um Menschen. Um ihre Würde, ihre Grundrechte, ihre Wünsche und Hoffnungen. Gründe, warum sie ihr Zuhause verloren haben und auf der Straße gelandet sind, gibt es viele. Aber keinen einzigen, ihnen nicht auf Augenhöhe zu begegnen.

    Genau diese Begegnungen sind es, die die Arbeit in der RELING für uns so wertvoll machen. Und die zeigen: Egal, ob es um etwas Trauriges, Nerviges oder Erfreuliches geht – wir sitzen im selben Boot. Und kommen nur gemeinsam weiter. Manchmal in Schieflage. Manchmal ist der Kurs nicht klar erkennbar. Manchmal sorgt eine steife Brise für Rückschläge. Aber manchmal, ja manchmal geht es auch in die gewünschte Richtung.

    Und daran teilhaben zu dürfen ist immer wieder ein Geschenk. So berichtete ein Gast kürzlich stolz von seinem schon länger anhaltenden Triumph beim Pfandflaschen-Sammeln. Hanseatisches Understatement war dabei nicht so sein Ding: „Wenn das so weitergeht, bin ich in einer Woche Millionär!“

    Ein anderer Besucher, den wir während unserer Straßensozialarbeit in der Nähe des Drob Inn trafen, hatte ebenfalls „voll good news“ zu erzählen. Die Termine bei der Schuldnerberatung, die wir gemeinsam mit ihm vereinbart hatten, hatten Wirkung gezeigt: „Voll geil: Ich bin seit heute raus aus dem Dispo-Minus.“  Das müsse gefeiert werden. Wie? „Voll klar: Ich ziehe mir jetzt schön zwei Linien Koks.“ Ähm. Voll kein Kommentar…

    Mehr zu sagen und mehr zu freuen hatten wir uns mit einer jungen Stamm-Besucherin, als sie neulich zur RELING kam. Sie strahlte dermaßen übers ganze Gesicht, dass nicht mal die Maske ihr Glück verbergen konnte: Sie lebt seit kurzem in einer Wohnunterkunft und hat die Aussicht, dort dauerhaft zu bleiben. Es war ein mühsamer Weg bis dahin, bei dem wir sie gerne begleitet haben. Einer, der viel Kraft und Geduld erforderte. Vor allem von ihr. Aber sie hat Kurs gehalten.

    Nun fühlt sie sich nach drei Jahren auf der Straße das erste Mal wieder geschützt und geborgen. „Wisst ihr was?“, fragte sie und flüsterte dann fast ein bisschen ehrfürchtig: „Es fühlt sich an wie ein Zuhause. Mein Zuhause.“

    Ein Satz, den wir gerne öfter in der RELING hören würden. Stattdessen beenden wir unsere Arbeitstage oft mit dem Gefühl, dass wir nicht so viel bewirken können, wie wir gerne würden. Mit dem Gefühl, dass Notlagen wie Obdachlosigkeit und Suchterkrankung an vielen Stellen der Stadt eher verwaltet werden, anstatt die Ursachen wirksam zu bekämpfen. Und zwar unter Berücksichtigung der Bedürfnisse derjenigen, um die es geht: Menschen.

    Natürlich ist eine Wohnung dabei nicht die Lösung. Aber sie sollte Grundvoraussetzung sein, um andere Probleme angehen zu können. Die Wohnung als Anfang eines Veränderungsprozesses. Nicht als Ende.

    Hamburg = Null Obdachlose + Null Leerstand. Diese Gleichung würde für uns aufgehen. Was meint ihr?

    Maren Albertsen


    [1] Bei der letzten offiziellen Befragung der Sozialbehörde 2018 wurde 1.910 Obdachlose in Hamburg gezählt. Allerdings wurden nur Obdachlose in Einrichtungen befragt, so dass die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte. Vgl. hierzu auch https://www.hinzundkunzt.de/was-sie-ueber-obdachlosigkeit-in-hamburg-wissen-muessen/

    [2] Vgl. hierzu https://www.hinzundkunzt.de/mehr-als-2600-wohnungen-stehen-leer/


  • Hand aufs Herz

    Hand aufs Herz

    So machte es neulich einer unserer Stamm-Gäste. Als wir zur RELING kamen, hockte er zusammengesunken neben der Tür, Tränen in den Augen. Und immer wieder: Hand aufs Herz. Als könnte er seinen Schmerz damit greifbar machen.

    Ein trauriger Moment. Einer, der Nähe brauchte. Wir knieten uns zu ihm. Holten ihm einen Stuhl, damit er sich setzen, sich anlehnen, Halt finden konnte. Kraftlos ließ er sich nieder. Und sagte weinend: „Mein Herz ist kaputt. Meine große Liebe ist tot.“

    Unser Stamm-Gast hat seine Frau verloren. Viel zu früh ist sie für immer gegangen. Das Leben auf der Straße hat ihr den Tod gebracht. Da gibt es nichts zu sagen, denn da fehlen die Worte. Vor allem, da wir kein Rumänisch sprechen und unser Gast kaum Deutsch. Aber wir konnten ihm Zeit und Raum für seinen Schmerz geben, die Trauer teilen.

    Ja, wir sind traurig. Aber auch dankbar. Dass unser Gast sich nicht zurückgezogen hat. Dass er zu uns gekommen ist. Dass die RELING weiterhin sein Vertrauens-Ort ist. Sein „Halte-Ort“: zum Anhalten, Aushalten, Festhalten. Dass wir ihm Beistand leisten durften.

    So etwas bewegt einen. Aber es gibt natürlich noch mehr Bewegung in der RELING, gerade jetzt im Sommer, wo es nach Ende des Winternotprogramms kaum Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose gibt. Aber wozu auch??? Draußen ist es heiß und die Rosen blühen… Alles fein, keine Notwendigkeit zu Handeln. Zumindest nicht von Seiten der Stadt. Sommernot? Was soll das denn sein? Kennt keiner.

    Nur die vielen, viel zu vielen Betroffenen. Die nicht gesehen werden. Die nicht gehört werden.

    Viele von ihnen kommen gerade zu uns. Viele neue Besucher, fast alle verunsichert, verzweifelt, weil sie keine Chance auf eine Bleibe haben. So antwortete ein junger Mann auf die Frage, ob er etwas möchte (womit wir Kaffee oder Wasser meinten): „Bitte, ich möchte ein Zimmer.“

    Ein Zimmer, das mehr ist als Schutz vor Kälte. Das auch vor Hitze schützt. Vor Gewalt, Lärm, Haltlosigkeit. Ein Raum, der aber vor allem die Seele schützt. Wo der Mensch ganz Mensch sein kann. Jeder Mensch.

    Wenn das nur so einfach wäre! Was es ja im Prinzip wäre. Wäre der (sozial-)politische Wille der Stadt Hamburg da. Aber genug davon an dieser Stelle, dafür fehlt gerade die Kraft…

    Kraft. Ja, zumindest ein bisschen Kraft spenden konnten und können wir hoffentlich in der RELING. Mit Worten, mit Taten, mit Dasein und Zuhören.

    So wie bei unserem trauernden Gast. Zwischendurch war er so verzweifelt, dass er sich mit der Hand über die Kehle fuhr. Eine deutliche Geste. Die wir mit anderen Gesten zum Glück vergessen machen konnten. Gesten des Zuspruchs, der Empathie, der Gewissheit: Du bist nicht allein. Wir sind für dich da. Gerade jetzt.

    Eine Begegnung, die uns noch lange beschäftigen wird. An die wir auch auf dem Heimweg dachten, während es nach Sonnenstich-wetter auf einmal erbarmungslos anfing zu schütten. Irgendwie passend: Auch der Himmel weinte jetzt mit unserem Gast.

    Maren Albertsen


  • Ganz einfach

    Ganz einfach

    Einfach mal die Klappe halten. Nur zuhören, nicht dazwischenreden. Auch wenn es schwerfällt, bei solchen Sätzen. „Ich bin wertlos“, sagte sie bestimmt. „Dreck. Lasst mich hier liegen. Ist am besten so. Ich werde verrecken. Ist schon okay.“

    Aber natürlich ist nichts okay. So einfach ist das nicht.

    Jeder Satz von ihr tat uns weh. Als wir sie neulich antrafen, bei einer unserer „StraSo“-Runden. Wie sie da lag, auf dem Boden. Ohne Isomatte, ohne Schlafsack. Unsere Stamm-Besucherin. Die keine Kraft mehr hatte für einen Besuch. Verzweifelt, verquollen. Verwundet, innerlich und äußerlich, „aber wirklich nur hingefallen“, ja klar.

    „Nein, nein, nein, stimmt nicht“, wollten wir erwidern. Aber hingeworfenen Widerspruch brauchte sie in dem Moment nicht. Sie brauchte behutsamen Zuspruch. Offene Ohren für ihre Botschaften. Wache Augen, voller Wertschätzung und Zuneigung.

    Einfache Gesten. Nicht besonderes. Und trotzdem wichtig. Immer wichtig. Und an diesem Tag, an dem wir unterwegs waren erst recht – dem „Tag der Einfachheit“. Oft wird es ja belächelt, das Einfache. Aber in der RELING feiern wir es. Einfachheit steht bei uns für Ehrlichkeit. Dafür, sich unmaskiert zeigen zu dürfen – auch mit Maske auf. Hier muss nichts aufgehübscht und überschminkt werden, nichts verdeckt und nichts versteckt. Come as you are!

    Genau diese Haltung schenkt uns so viele „einfache“, wunderbare Begegnungen: Das Sein-Lassen, das Sein-Gelassen-Werden. Das Wissen unserer Gäste, dass wir sie akzeptieren. Dass sie mit allen Anliegen zu uns kommen können – auch den vermeintlich ganz einfachen. Und das größte Glück für uns, wenn wir ihnen – einfach mit etwas Hilfe – einen Schubs Richtung Selbsthilfe geben können.

    Denn auch wenn es einfach nur traurig war, unsere Stamm-Besucherin so verloren am Boden zu sehen: Es half ihr, dass wir da waren. Dass sie keinen Grund zur Scham haben musste. Dass wir ihr erklärten, sie gerne zu unterstützen – wenn sie es denn will. Dabei, einen qualifizierten Entzug für sie zu organisieren. Beim Ärger mit dem Jugendamt zu vermitteln. Einen Schutzraum für sie zu finden. Wann auch immer sie dafür bereit ist.

    Nur ein kurzes Zögern, dann kam der Moment, in dem sie nickte: „Okay, ich will das.“ Sie setzte sich aufrecht hin, ihre Augen blitzten. Dann sackte sie wieder ein Stück zusammen. „Aber ich habe Angst.“

    Angst, den Neustart anzupacken, ihren „Macker“ zu verlassen, allein zu sein. „Aber du bist nicht allein“, versicherten wir. „Wir sind da.“ Und wir glauben fest daran, dass sie es schafft. Dann, wenn sie wirklich bereit dazu ist. Sie ist stark, sie ist mutig. Auch wenn sie das gerade nicht spürt. Weil sie gerade nur Angst spürt.

    Das ist nicht schlimm, liebe Besucherin, du, unsere Kämpferin. Weißt du was? Es gibt dazu eine wunderbare Songzeile von Sarah Lesch: „Mut heißt nicht, keine Angst zu haben. Mut heißt, nur, dass man trotzdem springt.“ Und das geht am besten gemeinsam. Eigentlich ganz einfach…

    Maren Albertsen


  • Wahrheiten

    Wahrheiten

    Wie viel Leben passt in einen Koffer? Da musste einer unserer Besucher neulich nicht lange überlegen: „Also bei mir mein ganzes.“

    Wumms. Worte, die mitten reingingen, ins Herz. Dabei stimmten sie nicht ganz: Unser Gast zog nämlich nicht nur einen abgewetzten Rollkoffer hinter sich her, er trug auch noch eine kleine Sporttasche mit sich. Darin: zwei Kuscheltiere. Oder, wie der Besitzer es knapp formulierte: „Meine Familie.“

    Wumms. Noch mehr Schmerz fürs Herz. Doch unser Gast sah das eher pragmatisch. Das Leben im Koffer, die Lieben in der Tasche. „So habe ich immer alles griffbereit. Alles, was ich habe. Und alles, was ich brauche.“

    Er sagte es leicht dahin, mit einem fröhlichen Lächeln. Ob aufgesetzt oder echt – wir wissen es nicht. Aber das ist für unsere Arbeit auch nicht von Bedeutung. Fassade darf bei uns echt sein. Solange wie nötig. Wir lassen jedem in seinem So-Sein, negieren die Wahrheiten unserer Gäste nicht.

    Denn ihre Wahrheiten sind nicht das kleinste Fitzelchen weniger berechtigt als unsere. Tröstende Wahrheiten, schützende Wahrheiten, beruhigende Wahrheiten. Es steht uns nicht zu, diese Wahrheiten zu zerstören. Es steht uns umso mehr zu, da zu sein und Scherben aufzukehren – falls  eine Wahrheit zerbricht. 

    Wie die Wahrheit von Sicherheit: Dem Glauben daran, sich in seiner Stadt sicher fühlen zu können, sich seiner wenigen Habseligkeiten sicher fühlen zu können. Wenigstens das! Für die meisten unserer Gäste gilt diese Wahrheit leider nicht.

    Immer häufiger hören wir Geschichten von Besuchern, die nicht „nur“ (mal wieder) geschmacklos bepöbelt, sondern auch (gleich mehrfach) beklaut wurden. Mal Papiere weg, mal der Rucksack, mal die Schuhe. Ja, die Schuhe. Im Schlaf! Zack, von den Füßen gezogen: „Ich hoffe nur, die hat ein noch ärmeres Schwein genommen…“

    Achselzuckendes Hinnehmen von diesem Alltag(skampf) auf der Straße – und in vielen Notunterkünften. In denen Not nicht verjagt, sondern höchstens verwaltet wird.

    „Man braucht halt immer einen Hut“, fasste es ein anderer Besucher zusammen. Nicht wütend, nicht anklagend. Sondern resigniert. Und meinte: „Man muss halt immer auf der Hut sein.“

    Eine traurige Wahrheit. Die für die Sozialpolitik und einen Großteil der Gesellschaft aber okay zu sein scheint. Weil diese Wahrheit sie selbst nicht betrifft. Und weil die Betroffenen nicht aufmucken. Sie haben keine Lobby, werden nicht gesehen, nicht gehört.

    Wäre es aber nicht schön, wenn diese Wahrheit niemanden mehr beträfe? Wenn Obdach- und Wohnungslose durch ein Klima des Respekts und des Miteinanders wirklich frei wären?  Frei von Unsicherheit, Gewalt, Schutzlosigkeit?

    Die Reling hält Kurs. Doch bis das Ziel erreicht ist, gilt für unsere Gäste: Lieber alles dabeihaben, immer. Das Leben in einen Koffer packen, die Familie in eine Tasche. Dazu ein Kopf voller Erinnerungen. An schönere Zeiten. Und ein Herz voller Hoffnung. Auf eine bessere Zukunft.

    Maren Albertsen


  • „Pause“

    „Pause“

    So beschrieb eine Reling-Besucherin kürzlich die Monate, bevor sie obdachlos wurde: „Ich habe Pause gemacht vom Leben.“ Denn sie konnte damals nicht mehr, konnte nichts mehr. Depressiv sei sie gewesen, schon lange, das sei ihr aber erst später klar geworden. „Ich war einfach unendlich traurig, unendlich müde, unendlich kraftlos.“

    Also machte sie Pause. Pause vom Leben. „Doch das Leben machte leider keine Pause von mir.“ Im Gegenteil. Ihr Leben lief weiter, mit all seinen Verpflichtungen: Mit zwei Kindern, für die sie (eigentlich) die „perfekte Mami“ sein wollte, mit der Arbeit, zu der sie (eigentlich) gehen wollte, mit Rechnungen, die sie (eigentlich) bezahlen wollte.

    „Eigentlich“, weil sie eben nicht konnte. Eine Pause brauchte. So wurde aus Kraftlosigkeit Arbeitslosigkeit, aus Traurigkeit Alkoholabhängigkeit. Aus Rechnungen wurden Mahnungen, wurden Schulden, immer mehr – bis die Zwangsräumung folgte.

    „Das Leben entschuldigt keine Pause“, erklärte sie achselzuckend. Ein Satz, der – leider – für die meisten unserer Gäste gilt. Ein Leben auf der Straße, ein Leben ohne geschützten Rückzugsort: Das heißt, immer wachsam zu sein. Sein zu müssen.

    Wachsam, um nicht vertrieben zu werden (Was erdreisten sich Obdachlose aber auch, sich in der Öffentlichkeit einfach hinzusetzen und ein Bier zu trinken!!!). Wachsam, um nicht ständig beklaut oder angegriffen zu werden (Wie – sind Obdachlose, die in der Öffentlichkeit schlafen, nicht automatisch Freiwild???)

    Wie kräftezehrend es sein muss, ständig „auf dem Sprung“ zu leben – wir können es nicht mal erahnen. Aber wir können in der Reling zumindest für ein bisschen „Abschalten“ sorgen. Einen Ort gestalten, der einlädt, aufzutanken: neue Energie, Zuversicht, Herzenswärme…  – ganz nach Bedarf. Reling-Zeit als Auszeit also. Auszeit von Sorgen und Stress, von Anspannung und Abwertung.

    Reling-Zeit als Pause.

    Maren Albertsen


  • Wie kann man nur?

    Wie kann man nur so viel Hass in sich tragen? Hass gegen die Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft. Und wie kann man sich nur so verhalten? So verachtungsvoll, abscheulich, brutal. Wie kann man nur? Das fragten wir uns kürzlich nach einer unserer „StraSo“-Runden. Entsetzt, wütend. Die Szene, die wir da am Hauptbahnhof aus einiger Entfernung mitbekommen hatten, steckt uns immer noch in den Knochen.

    Ein paar Obdachlose saßen neben einem Durchweg zur U-Bahn an eine Mauer gelehnt und taten – nichts. Also sie taten nichts, was jemanden belästigen, verängstigen oder sonst wie behelligen könnte. Sie waren nicht laut, nicht aggressiv, behinderten keine Passanten am Vorbeigehen. Sie tranken Bier, unterhielten sich. Sie waren einfach nur da.

    Was aber wohl einfach schon zu viel war. Zu viel für den Mann, der die Gruppe soeben passiert hatte, als er sich ruckartig umdrehte und mit hochrotem Kopf schrie: „Ihr Asozialen! Ihr seid Abschaum! Geht arbeiten! Verpisst euch!“

    Fassungslos hörten wir diese Worte, hörten noch weitere, viel schlimmere Worte, die folgten. Worte, die den Menschen, denen sie galten, ihr Menschsein absprachen, ihre Würde, ja, sogar ihr Recht auf Leben: „Geht sterben!“

    Fassungslos sahen wir, wie der Mann während seiner Hasstirade nach einer Glasflasche auf dem Boden griff und in Richtung der Gruppe warf. Nur durch Glück, durch Zufall, was auch immer, traf sie niemanden. Sie zersplitterte krachend auf dem Boden. An einer Stelle, die nur eine Sekunde später eine Mutter mit Kinderwagen betrat.

    Fassungslos erlebten wir uns selbst einen Moment in Schockstarre. Realisierten erst, was da gerade passiert war, als der Mann schon verschwunden war. Standen zu weit weg, um eingreifen oder den Mann später für eine Anzeige bei der Polizei beschreiben zu können.

    Konnten also nicht mehr viel tun – außer für die Betroffenen nach diesem schlimmen Erlebnis da zu sein. Unendlich traurig machte uns deren Reaktion – nämlich keine. Stattdessen Resignation, Achselzucken: „Wir sind das gewohnt.“

    Wie kann das nur? Wie kann das nur sein? Das Verachtung von und Gewalt gegenüber Obdachlosen „normal“ ist?

    So ein Verhalten lässt sich durch nichts rechtfertigen. Die Obdachlosen sollen arbeiten gehen? Dann helft ihnen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen! Die Obdachlosen sollen sich verpissen? Dann gebt ihnen ein Zuhause, in das sie sich verpissen können! Die Obdachlosen sind asozial? Dann lasst sie am sozialen Leben teilhaben!

    Und hört auf, von „den“ Obdachlosen zu reden. Denn „die“ Obdachlosen gibt es nicht. Es gibt nur Menschen. Wunderbare, wertvolle, einzigartige und eigensinnige Menschen. Keiner ist besser, keiner ist schlechter. Jeder hat seine persönliche Geschichte, seine eigenen Probleme, Ressourcen und Bedürfnisse.

    Wie kann man nur? Wie kann man das nur nicht sehen? Wie kann man so blind sein, wenn es um Geschwisterlichkeit, Miteinander, Verantwortung geht? Und wie kann man so eifernd sein, wenn es um Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt geht?

    Wie kann man nur?

    Maren Albertsen


  • Zwei Hände

    Zwei Hände

    Und plötzlich, endlich, lächelte sie. „Wisst ihr was?“, fragte die ältere Frau, nachdem eine letzte Träne über ihr Gesicht gekullert war. „Mir ist oft kalt von innen drinnen. Aber ihr habt ein warmes Herz. So kann ich auftauen.“ Worte, die nachhallen. Gehört während einer unserer „StraSo“-Runden. Dabei taten wir gar nichts Besonderes. Nur das, worin wir unseren Auftrag in der RELING sehen, im Büro genauso wie bei der Straßensozialarbeit: Zuhören, Akzeptieren, Wertschätzen. Unterstützen, Alternativen aufzeigen, Mut machen. Und mit Worten auch einfach mal in den Arm nehmen. Ganz fest.

    Das sind Berührungen, die auch uns berühren. Und uns so viel zurückgeben. Gerade, weil immer noch Abstand halten angesagt ist. Und weil um uns herum, man kann es leider nicht anders sagen, ein f***ing Krieg herrscht.

    Was für ein wunderbares Geschenk in diesen Zeiten, dass ihr uns so vertraut, liebe Gäste. Euch uns anvertraut. Dass ihr euch bei all dem Mist, der euch im Leben widerfährt, trotzdem aufrafft und zu uns kommt. Dass ihr eure Geschichten mit uns teilt, die schönen genauso wie die traurigen. Dass ihr euch nicht klein machen lasst, sondern die Größe habt, um Hilfe zu bitten.

    So wie die oben erwähnte Frau, die wir weinend auf der Straße antrafen. Erst mochte sie nichts sagen. Aber dann öffnete sie sich doch. Erzählte, dass es ihr nicht gutgehe, sie fertig sei, eine Therapie bräuchte. Aber das sei gar nicht so wichtig. Am meisten mache sie sich Sorgen um andere. Zum Beispiel um eine Bekannte. Eine junge, ausgemergelte, alkoholkranke Frau, die Angst habe, schwanger zu sein. „Wenn das stimmt, wie soll das gehen, mit Wodka und auf der Straße?“

    Noch wisse die Bekannte es nicht sicher. Was aber sicher sei: „Schwanger oder nicht, sie braucht Hilfe, um ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Und ich auch.“

    Genauso ein „Griff“, wollen wir, will die RELING sein. Ein Griff mit Namen Empathie, der verlässlich da ist. Der so lange hält und der so lange stützt wie nötig. Der Kraft und Zuversicht mit auf den Weg gibt. Ein Griff, bei dem jeder bei Bedarf zupacken kann.

    Audrey Hepburn hat mal gesagt: „Je reifer wir werden, desto mehr verstehen wir, dass wir zwei Hände haben: Eine, um uns selbst zu helfen, und eine andere, um anderen zu helfen.“ Aber manchmal muss man auch beide Hände ausstrecken.

    Maren Albertsen


  • „Fishing for Compliments“

    „Fishing for Compliments“

    Das machten wir am 1. März ganz im wörtlichen Sinne. Schließlich ist an diesem Datum der Welt-Komplimente-Tag. Und so hielten wir für unsere Gäste eine kleine Überraschung bereit: Ein Tütchen voll bunter Spickzettel mit handgeschriebenen mutmachenden und anerkennenden Sätzen. Wer wollte, bekam sein persönliches Kompliment herausgefischt und vorgelesen. „Du bis wertvoll“, hieß es dann. Oder auch: „Mach dich nicht klein – in dir steckt Großes.“ Manche Augenpaare strahlten daraufhin mit der Sonne um die Wette: Das schönste Kompliment für uns!

    Häufig hörten wir zusätzlich ein freundliches Danke für das „süße Extra“. Dieses Extra war für viele auch dringend nötig. Denn: „Die Pandemie hat für uns jetzt schon sooo lange nur Saures zu bieten“, wie ein Besucher kommentierte.

    Rund zwei Jahre ist es mittlerweile her, dass der erste Corona-Fall in Deutschland bekannt wurde. Welch starke Auswirkungen die Pandemie bis heute haben würde – wohl keiner von uns hätte damit gerechnet. Die ersten Maskenträger wurden noch misstrauisch beäugt, heute ist der Anblick für uns völlig normal. „Ich weiß gar nicht, wie du ohne aussiehst“, witzeln wir manchmal. Dabei ist das doch eigentlich traurig.

    „Kann Corona nicht endlich vorbei sein?“, fragte ein Gast neulich. Nicht wütend, nur noch resigniert. „Ich hab´ so kein Bock mehr.“ Verständlich. Dazu die neuen Ängste, Unsicherheiten: Krieg! Quasi in unserer Nachbarschaft. Schreckensmeldungen und Schreckensbilder am laufenden Band. Unfassbar, unwirklich – und leider doch so schmerzhaft war. Das belastet, das raubt Zuversicht.

    Wie muss es in dieser Situation all denjenigen ohne ein Zuhause gehen? Ohne einen ruhigen, sicheren Ort, an dem sie Kraft tanken und an dem sie in Gemeinschaft trotz allem wieder nach vorne blicken können? Wir können es nur erahnen. Und versuchen im Alltag zu helfen, so gut es geht.

    So wie dem Besucher, den wir kürzlich bei der Straßensozialarbeit trafen und der uns nach einem Windlicht fragte. Ein Windlicht? Jetzt, wo es Frühling wird? „Ja“, flüsterte der junge Mann, „So eins nehme ich für meine Schwester mit, wenn ich sie demnächst besuche.“ Pause. „Auf dem Friedhof.“

    Schluck. Das ist dann wieder so ein Moment… Da ist es egal, wie sehr die Sonne scheint. Das Herz friert. Denn was hilft, wenn jemand einen geliebten Menschen verloren hat? Was kann man tun und sagen? Nicht viel. Aber man kann da sein. Und zuhören. So erzählte uns der Mann, wie seine jüngere Schwester bei einem Unfall ums Leben kam, da war sie gerade 14. Er selbst sei Zeuge gewesen, hielt seine Schwester in den Armen, als sie starb. „Sowas kriegst du nicht aus dem Kopf, auch wenn es lange her ist. Das bleibt.“

    Ja, sowas bleibt. Und es ist verständlich, dass so eine Erfahrung einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Bewundernswert, wenn man sich trotzdem aufrappelt und Ziele setzt. „Ich bekomme hoffentlich bald ein festes Zimmer in einer Wohnunterkunft“, berichtete er weiter. „Dann möchte ich eine Ausbildung als Berufskraftfahrer anfangen.“ Kurzes zögern. „Wenn ich das schaffe.“

    Es war wahrscheinlich nur Zufall, welchen Zettel wir nach diesen Selbstzweifeln aus dem Komplimente-Beutel für ihn fischten: „Du bist ein Kämpfer – du schaffst das.“ 

    Maren Albertsen


  • Nichts als Worte

    Nichts als Worte

    Und doch so machtvoll! In ihrem Fall hätte sogar ein einziges Wort genügt. Ein klitzekleines nur. Wir hatten es so gehofft. Dass die Frau, die wir bei unserer Straßensozialarbeit antrafen, „Ja“ sagen würde. „Ja“, in dem Moment, als wir auf ihren Wunsch hin bei der Notaufnahme der Frauenhäuser anriefen – und die Ansprechpartnerin am anderen Ende fragte, ob sie abgeholt werden wolle. Abgeholt, um in Sicherheit gebracht zu werden. „Bitte sag ja!“, hofften wir in Gedanken. Aber sie sagte nichts.

    Für das entscheidende Wort fehlte ihr letztlich der Mut. Andere Worte hatten ihr diesen Mut genommen. Erniedrigende Worte, die sie in einem plötzlichen Stimmungswechsel nun gegen uns richtete.

    Nicht einfach, so etwas auszuhalten. Dass man helfen möchte, die Hilfe aber nicht angenommen wird. (Noch) Nicht angenommen werden kann. Auszuhalten, wie viel jemand zu ertragen bereit ist, um nicht allein zu sein. Um die Illusion von Liebe, einer „guten“ Beziehung aufrechtzuerhalten. Was dann bleibt? Ein Leben auf der Straße, das nicht viel mehr ist als ein Überleben. Gewalt, physisch und psychisch. Und Wodka, viel Wodka als Trost.

    „Er macht mich kaputt“, hatte die Frau zuvor über ihren Freund erzählt, „er redet mich kaputt.“ Und wie soll man auch heil bleiben, wenn einem immer wieder gesagt wird, man sei wertlos, würdelos, zu nichts nütze?

    Da nützt es nichts, sich zu sagen: Das sind nur Worte. Denn die gehen direkt hinein – in die Seele. Und setzen sich dort fest. Bis sie irgendwann ausbrechen – und genauso verletzend zurückgeworfen werden.

    Umso wichtiger für uns, sich immer wieder bewusst zu machen, was Worte bewirken können. Was sie in anderen auslösen, wie sie andere kleinmachen können.

    Oder im besten Fall: Jemanden ein bisschen aufbauen können. So wie andere Gäste, die zu uns kommen. Die aus den unterschiedlichsten Gründen gerade mutlos, ratlos, perspektivlos sind. Die umso dankbarer sind, wenn wir gut zuhören – und gut mit ihnen reden. Wenn wir Worte „verteilen“, die Kraft und Zuversicht geben.

    Dass unsere Besucher teilweise nur gebrochen oder gar kein Deutsch sprechen, ist dabei nebensächlich. Verständnis funktioniert auch, ohne sich zu verstehen: Wenn man sich auf sein Gegenüber wirklich einlässt, findet man automatisch die „richtigen“ Worte, denn sie kommen von Herzen.

    Genauso wichtig: Für eine Begegnung auf Augenhöhe, müssen sich Augen schon begegnen. Müssen wir uns Zeit nehmen auch für Blicke, für Gesten.  Nur so können wir bei unseren Mitmenschen, die gefühlt in einer „Eiszeit“ feststecken, das Eis brechen. Manchmal reicht dafür schon ein Lächeln, manchmal ein ermunterndes „Wie können wir dir helfen?“. Und wenn man nicht helfen kann, kann man sich trotzdem weiter begegnen. Gemeinsam aushalten. Mit Worten Gutes tun, auf den anderen achtgeben.

    So wie wir auf die oben erwähnte Frau. Unsere Hand bleibt weiter ausgestreckt. Bis sie irgendwann vielleicht zugreift. Und das entscheidende Wort sagt.

    Maren Albertsen


  • „99 Problems“

    „99 Problems“

    So stand es auf seiner Mütze. Tief zog unser Besucher sie neulich ins Gesicht, Wärme suchend, während Sturmböen samt Schauern über Hamburg hinwegfegten. „99 Problems“.

    „Passt zu mir, oder?“, fragte er augenzwinkernd. „Weil du so viele Probleme hast – oder weil du so viele machst?“, fragten wir augenzwinkernd zurück. Und bekamen als Antwort: Stille. Zögern. Überlegen. Schließlich, selbstkritisch: „Ich glaube, das lässt sich nicht immer trennen.“

    Nein, sicherlich nicht. Verhältnisse und Verhalten – oft bedingt es sich gegenseitig. Wenn die wichtigsten, die lebenswichtigsten Bedürfnisse und Bedarfe kaum gedeckt sind, wenn das Leben „halt einfach blöd zu einem ist“ – dann „bin ich halt manchmal auch blöd zum Leben.“ Ein Kreislauf, in dem viele unserer Gäste feststecken.

    Ein Kreislauf, der nicht leicht zu durchbrechen ist. Erst recht nicht allein. Umso wichtiger für uns, dass die RELING ihrem Namen gerecht wird. Dass sie Halt bietet, dass Besucher*innen sich an ihr festhalten und Kraft tanken können. Dass dabei Zeit und Raum für Gespräche bleibt. Fürs Hinschauen und Hinhören, fürs Vermitteln und Verweisen, fürs Aufpassen und Aufhelfen. Für ein Füreinander und Miteinander.

    Wertvolle Erfahrungen, die uns alle bereichern – Gäste genauso wie Mitarbeiter*innen. Was uns besonders freut, nach rund einem Dreivierteljahr RELING: Dass immer mehr Besucher*innen nicht „nur“ zu uns kommen, weil sie „Problems“ haben und Unterstützung benötigen. Sondern auch, weil sie uns als vertrauenswürdig empfinden, als Vertraute. So soll es sein: Vertrauen schenken, Vertrauen erhalten. Noch ein Kreislauf – aber einer, in dem wir gerne feststecken.

    Zu uns kommen Menschen mit den verschiedensten Anliegen. Sie alle sind reich an Erfahrungen und Erlebnissen, an Fähigkeiten und Potenzialen. Sie bringen ihre Geschichten mit, lassen uns eintauchen in ihre Wirklichkeit, ihre Wahrheiten – manchmal auch ihren Wahn. Nein, das ist nicht immer einfach. Vor allem dann nicht, wenn viele Emotionen im Spiel sind.

    Umso wichtiger für uns als Mitarbeiter*innen, dass wir uns immer wieder zentrieren und uns unserer eigenen Gefühle und Reaktionen bewusst sind. Der britische Psychologe und Psychotherapeut John Heron nennt in diesem Zusammenhang die hilfreichen Formeln „Be here now“ und „Be there now“: Nur wer ganz „hier“ (bei sich selbst) ist, kann auch ganz (bei anderen und für andere) „da“ sein. 

    Und genau das wollen wir ja: Für andere da sein, sie beachten und achten. In ihrem „So-Sein“, in ihrer individuell eingerichteten (Lebens-)Welt. Sie machen diesen großen Schritt auf uns zu, öffnen sich und lassen uns teilhaben – und wünschen sich auch vor allem das: Teilhabe.

    Da kann übrigens jeder von uns etwas zu beitragen, denn jeder kann ein bisschen Wertschätzung und Wärme abgeben. An die Menschen, die gerade besonders frieren – selbst, wenn sie so eine Mütze wie unser Besucher tragen… Denn die Probleme, diese 99 Probleme „die machen einen von innen kalt“, wie er uns erklärte. „Aber keine Sorge“, erzählte er lachend weiter und straffte die Schultern, „gestern stand da noch „100 Problems“ – ich bin also auf einem guten Weg.“

    Ein Weg, den du nicht allein gehen musst. Wir sind da.

    Maren Albertsen


  • Der schönste Lärm

    Der schönste Lärm

    Kurz: Es war der Brüller! Tatsächlich mussten wir uns neulich in der RELING das ein und andere Mal anschreien. Das meinten wir aber nicht böse. Und unsere Gäste auch nicht. Ohne stimmenmäßig ein paar Dezibel draufzulegen ging es einfach nicht – denn an der Baustelle direkt neben unserem Büro wurde fleißig gebaggert, gebohrt und pressluftgehämmert. Da liefen die Begrüßungs-Dialoge an der Tür in etwa so ab: „Hallo, schön, dass du da bist. Hast du Durst?“ „Ah, toll, heute gibt’s bei euch Wurst?“

    Und dann: gemeinsames, befreites Lachen. So wertvoll! Das weiß auch eine ältere Stamm-Besucherin, die uns mit ihrer herrlichen Selbstironie immer wieder bezaubert. Was denn passiert sei, fragten wir einmal besorgt, als sie mit verbundenem Zeigefinger zu uns kam. „Na was wohl?“, lautete ihr trockener Kommentar, „ich habe zu tief in der Nase gebohrt!“

    Ein anderes Mal rief sie schon von Weitem fröhlich „Hallooo meine Kinder“, als sie sich durch Pfützen und Schlaglöcher mit ihrem Rollator zu uns kämpfte. „Ich habe sooolche Rückenschmerzen, wisst ihr woher?“ Wussten wir natürlich nicht. „Ist doch klar“, meinte sie verschmitzt, „ich habe zu viel getanzt!“

    Aber zu viel – geht das überhaupt?  Tanzen wir doch einfach mal weiter. Durch Pfützen und Hindernisse, Schwierigkeiten und Sorgen. Wir in der RELING sind jedenfalls dankbar dafür, dass wir mit unseren Besuchern manchmal „nur“ wunderbar miteinander lachen können.

    So wie mit dem Gast, der auf die Frage, ob er einen Bonbon haben wolle, antwortete: „Nee lass mal, ich kann nicht gut beißen.“ „Du sollst auch nicht beißen, du sollst lutschen!“ „Ah okay, lutschen kann ich.“ Danke für das Kopfkino! Ähm, und irgendwie passend, dass kurz darauf ein Besucher mit offenem Hosenstall an die Tür trat… Grinsend wurde er von uns vor die Wahl gestellt: „Entweder du machst deine zu – oder wir lassen hier gleich alle die Hosen runter.“ Spoiler: Er traf die richtige Entscheidung.

    Bewahren wir uns doch diese Leichtigkeit. Schauen wir uns das von unseren Gästen ab. Von Menschen, denen wir größten Respekt dafür zollen, dass und wie sie trotz widriger Umstände ihr Leben bewältigen, sich nicht unterkriegen lassen. Wie sie sich ihren Witz und ihre Schlagfertigkeit bewahren, dieses „Trotzdem-Lächeln“. Selbst bei 6 Grad und strömendem Regen. So saß er da, ein junger Mann im Rollstuhl, den wir während unserer Straßensozialarbeit regelmäßig treffen. Nur leichtbekleidet, komplett durchnässt. Saß da klaglos, währen Passanten um ihn herum fluchend ihre Schirme aufspannten. Und lächelte.

    Lächelte uns an, lächelte Richtung Himmel und rief: „Ey Petrus, kannst den Wasserhahn wieder zudrehen. Reicht jetzt.“ Stattdessen drehte Petrus nochmal richtig auf. Und der junge Mann? Lachte nur umso lauter. „Da orientiere ich mich an Karl Valentin“, erklärte er später. Der sagte mal: „Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“

    Wie wahr. Wie klug. Also ruhig nochmal ordentlich aufdrehen: Lachen ist der schönste Lärm!

    Maren Albertsen


  • Im Einklang

    Im Einklang

    Schritt halten. Oft gar nicht so leicht. Wir kommen ja alle als Neulinge in diese Welt – und müssen uns erstmal ans Tempo gewöhnen, das uns umgibt. Doch dafür bleibt selten Zeit. Stattdessen heißt es: Zack zack, lauf mit, optimier dich, bleib flexibel, fit, angepasst – gerade zum Jahresanfang, wenn überall von guten Vorsätzen die Rede ist.

    Aber wenn man das nicht packt? Wenn man mal nicht Schritt halten kann? Dann verliert man ganz schnell den Anschluss. Vor allem kommt man auch ganz schnell ins Stolpern. Da reicht schon ein Stein, der einem in den Weg gelegt wird, ein Hindernis, ein Verlust, eine Krise. Und wenn da dann keiner ist? Kein soziales Netz, das einen auffängt, kein Mensch, der einen hält, der einem wieder aufhilft – puh, wie kommt man dann wieder hoch?

    Wieviel Kraft wohl dazu gehört, wieviel Mut? Wir können es nur erahnen. Umso bereichernder für uns in der RELING, wenn wir dieses Aufrappeln ein Stück weit begleiten dürfen. Mal anstupsend, mal stützend – und manchmal auch einfach als „Da-Seiende“. Damit Gäste, die aus dem Tritt gekommen sind, wieder Fuß fassen. Und ihren Rhythmus (wieder) finden.

    So wie einer unser Besucher aus Polen. Überschwänglich vor Freude grüßte er uns kurz vor Jahresende bei der Straßensozialarbeit. Ja, er habe die Nummer, die wir ihm von der Beratungsstelle „Plata“ gegeben haben, neulich selbstständig angerufen (und sich so über Hilfsmöglichkeiten für Bürger*innen aus Osteuropa informiert). Diesen Vormittag habe er übrigens bei einer Baufirma zur Probe gearbeitet, was sehr gut lief, also… „Läuft, oder? Das neue Jahr kann kommen!“

    Oh ja, das sieht so aus. Das sieht gut aus, dabei sah es eigentlich gar nicht gut aus: Aus der Bahn geworfen, wohnungslos, arbeitslos. Aber er kämpft sich zurück. Angetrieben vom Willen zur Veränderung, Verbesserung. Und uns? Uns braucht er auf seinem Weg nun fast gar nicht (mehr). Was für ein schönes Geschenk!

    Eine Aufgabe, eine feste Struktur, ein Gefühl der Zugehörigkeit – wie sehr das helfen kann, nicht vom Kurs abzukommen. Wie sehr wir das auch unseren anderen Besucher*innen wünschen. Von denen viele besonders zur Weihnachtszeit strauchelten. Von denen manche ewig brauchen, um weiterzukommen. Von denen einige falsch abbiegen – aber von denen hoffentlich keiner aufgibt.

    Und vielleicht ist das ja der Rhythmus, in dem es funktioniert – gerade jetzt, als Neustart zum  Jahresanfang: Kleine Ziele setzen. Schritt halten. Und dann, wahrscheinlich: hinfallen. Trauern, ärgern, akzeptieren. Aufstehen, weitergehen. Wieder hinfallen. Wieder aufstehen. Jeder in seinem eigenen Tempo, mit sich selbst im Einklang. Denn schneller heißt nicht besser, nicht glücklicher. Sondern einfach nur schneller.

    Maren Albertsen


  • Abgrenzen, nie ausgrenzen

    Abgrenzen, nie ausgrenzen

     „Es ist so schwer“, sagte er. Schulternzuckend, als wollte er den Satz damit abtun. Aber dann schaute der junge Mann uns an, suchte unseren Blick und seine Augen zeigten nur eins: Traurigkeit. Ein kurzer Moment, in dem seine Fassade bröckelte und er uns eine einfache Wahrheit gestand: „Es ist so schwer.“

    Okay, genau so hat er es nicht gesagt, bei ihm hieß es „f*cking hard“, und das ist es ja auch: Verdammt schwer, vom Alkohol loszukommen. Auf der Straße, ohne sozialen Halt, wenn nur der Wodka dich hält – bis er dich eben nicht mehr hält, sondern dir den Boden unter den Füßen wegzieht. Wortwörtlich. So dass du mit dem Gesicht drauf landest.

    Platzwunden, von der Stirn bis zum Kinn, dick mit Schorf überzogen. So besuchte er uns neulich in der RELING. Was passiert sei, wollten wir wissen. Und ahnten es schon: Getrunken, viel zu viel getrunken, epileptischen Anfall gehabt, gestürzt.

    „Ich weiß, ich muss damit aufhören“, sagte er. „Ich weiß das. Aber ich schaffe das nicht. Weil da sonst nichts ist.“ Keine Aufgabe, keine Perspektive, kein Zuhause. Was leider für viele unserer Besucher gilt. Und was ihnen gerade zur Weihnachtszeit besonders zu schaffen macht.

    Umso dankbarer sind wir für jeden der an (bzw. in) der RELING Halt sucht, der uns vertraut, sich uns anvertraut. Deshalb freuen wir uns auch immer, wenn genügend Zeit für Gespräche bleibt. Beziehungsweise Zeit fürs Zuhören, aufs Eingehen, aufs Verstehen. Zeit für Empathie – manchmal ist das ja der wichtigste Part.

    Dann, wenn ein Besucher verzweifelt berichtet, dass ihm sein Hund weggelaufen sei: „Ich hab den erst vor ein paar Tagen bekommen und hab noch keine Papiere – den kriege ich doch nie wieder!“ Dann, wenn vom Überlebenskampf auf der Straße berichtet wird, vom Beklautwerden, von Schlägereien, vom Alleinsein – also dem Alltag. Dann, wenn man buchstäblich zusehen kann, wie eine Person zugrunde geht, immer weniger wird. Die aber, und das ist dann auch für uns so „f*cking hard“, (noch) keine Hilfe akzeptieren und annehmen will. Oder nicht kann, vielleicht beides.

    Verdammt schwer ist das. Erst recht, wenn da jemand ist, zu dem man eine Beziehung aufgebaut hat.  Denn es ist in der Sozialen Arbeit ja immer so ein Balance-Akt: Nähe zulassen, ohne zu nah zu werden. Abgrenzen, ohne auszugrenzen. Einfühlen, ohne sich eins zu fühlen.  

    Eine tägliche Herausforderung für uns in der RELING. Wie in der Begegnung mit einer älteren Obdachlosen, von der wir wissen, dass ihre Lebenssituation sie „kaputt“ macht, psychisch und physisch. Die das auch selbst weiß, und die trotzdem bislang nicht über den ersten Schritt hinauskommt: den zu uns. Beim letzten Besuch setzte sie sich aufrecht hin, machte sich groß, immerhin. „Alles okay, Baby!“, schmetterte sie uns entgegen, kraftvoll. Aber ihr Blick sagte etwas ganz anderes.

    Es ist so schwer. Auch, sich immer wieder was vorzumachen. Bröckelnde Fassade. Noch hält sie. Und wenn sie bricht? Wir werden da sein. Dafür sind wir da.

    Maren Albertsen


  • Advent, Advent…

    Advent, Advent…

    Ein Blick ins Licht. Leider kein Lichtblick.

    Nun brennt sie also – die erste Kerze auf dem Adventskranz. Eigentlich ein Zeichen der Vorfreude, der Hoffnung.  Aber für uns in der RELING ist sie auch Mahnung, Erinnerung, ein flammendes „Jeder Einzelne ist einer zu viel!“

    Mindestens 29 Obdachlose sind in diesem Jahr auf Hamburgs Straßen gestorben, wie „Hinz&Kunzt“ Mitte November berichtete. Weitere 17 Obdachlose starben im selben Zeitraum in Hamburgs Krankenhäusern. Nicht zu vergessen die vielen, viel zu vielen Wohnungslosen der Stadt, die dieses Jahr verstorben sind. Zählt man sie hinzu, steht da plötzlich eine erschreckende Zahl im Raum: 125.

    125 tote Obdach- und Wohnungslose. Allein in diesem Jahr. In Hamburg.

    Unfassbar!

    Eine unfassbare Zahl. Aber eben keine Zahl. Es geht hier um Menschen. Menschen, oft allein gelassen im Leben – und auch allein gelassen im Sterben.

    Vor ein paar Tagen hat die Ampel-Koalition verkündet, dass sie die Obdachlosigkeit in Deutschland bis 2030 mit einem „Nationalen Aktionsplan“ überwinden will. Jetzt müssen Worten endlich Taten folgen. Taten, auf die 125 Menschen in Hamburg dieses Jahr vergeblich gewartet haben. Für sie wurde am Totensonntag ein bewegender Gedenkgottesdienst in der St. Bonifatius-Kirche in Hamburg veranstaltet.

    Die Namen der Verstorbenen wurden vorgelesen, es wurden Kerzen angezündet. Blicke ins Licht, in der Hoffnung auf kleine Lichtblicke. Gemeinsam Zeichen setzen im Sinne von „Ihr seid nicht vergessen“, Zeichen setzen im Sinne von „Ihr wart und seid wertvoll.“

    So wertvoll, wie für uns auch die Menschen sind, die uns in der RELING besuchen und denen wir während unserer Straßensozialarbeit begegnen. Alle. Jeder einzelne von ihnen. Der Gast, der sich bei uns ab und zu „den nötigen Stups“ abholt, um sein Leben dann wieder einige Zeit selbständig „auf die Kette zu kriegen“, genauso wie der Besucher, der immer wieder denselben „Endlos-Monolog“ abspult – und gar keine Beratung möchte, sondern sich einfach „nur“ gesehen, gehört und verstanden fühlen will.

    Der ältere Obdachlose, der uns jedes Mal freudestrahlend und mit „ner mega-krassen Story“ begrüßt, wenn wir ihn in der City antreffen, genauso wie die neue Klientin, alkoholkrank, die nach „Jahren des Selbstbelügens“ zum ersten Mal genügend Mut aufbrachte, den entscheidenden Satz zu sagen: „Ich brauche Hilfe.“

    Sie alle sind wunderbar, wandelbar. Einzigartig, eigensinnig.

    Umso wichtiger, dass wir alle dafür einen Sinn beziehungsweise das im Sinn haben. Umso wichtiger, nicht zu vergessen. Sondern sich zu erinnern, dass da draußen Menschen sind, auf der Straße. Die Unterstützung brauchen. Die dort leben. Die leider nicht immer überleben. Lassen wir für sie die Kerze brennen – nicht nur in der Adventszeit.

    Ein Blick ins Licht. Ein kleiner Lichtblick.

    Autorin: Maren Albertsen

  • Gute Frage(n)

    Gute Frage(n)

    „Wie geht’s dir?“ zum Beispiel. Eine simple Floskel. Oft nur so dahingesagt, oft ohne Erwartung einer ehrlichen Antwort. Im Alltag wollen wir manchmal gar keine. Eine ausführlichere erst recht nicht…

    Aber „Wie geht’s dir?“ kann auch ein Türöffner sein. Eine Brücke, um an Bord zu kommen. Wie hier in der RELING, wenn wir auf diese Weise unsere Gäste begrüßen. Wenn wir das ganz bewusst tun, als ernst gemeintes Interesse, als Einladung zu einem vertrauensvollen Gespräch.

    In so einem Moment steckt ganz viel in der Frage: wichtige Wachsamkeit (im Sinne von Aufmerksamkeit), wertfreies „Wissen-Wollen“ (um die aktuelle Lebenslage unserer Besucher*innen), wirkliche Wertschätzung (im Sinne von Akzeptanz und Empathie). 

    Natürlich ist es total okay, wenn wir als Antwort nur ein Achselzucken erhalten, ein „gut“, „schlecht“ oder „muss ja“. Aber wir haben durch die Frage gezeigt: Unser Ohr ist offen – wem etwas auf der Seele liegt, kann das mit uns teilen. Was auch heißt: Unsere Hand ist ausgestreckt – wer Halt braucht, kann einfach zugreifen.

    Apropos brauchen: „Was brauchst du?“ Noch so eine simple Frage. Aber genauso wichtig, gerade in der Sozialen Arbeit. Nicht „Was willst du?“ oder „Was hättest du denn gern?“, sondern „Was brauchst du?“ – im Sinne von: „Was benötigst du wirklich?“

    Das macht deutlich: Es geht nicht um unerfüllbare Wünsche, es geht nicht um unangemessene Ansprüche. Es geht um die tatsächlichen Bedürfnisse und Bedarfe unserer Gäste. Um ihre Rechte und um das, was ihnen zusteht. Darum, was ihr konkretes Anliegen ist – und wie wir ihnen dabei helfen, wie wir sie individuell unterstützen können.

    Denn so viel wir uns auch anlesen, so gut unser theoretischer Hintergrund ist: Jede Situation, jede Begegnung mit unseren Besucher*innen ist im besten Sinne des Wortes einzigartig. Es gibt deshalb (zum Glück) kein Schema F, keinen Handlungskatalog, der unveränderlich gilt.

    Was also tun? Diese Unsicherheit akzeptieren. Ganz genau hinhören, was unsere Gäste als ihr Anliegen nennen. Und anerkennen, dass nur sie selbst die Expert*innen ihres Alltags sind. Dass wir keinesfalls für sie (oder gar über sie hinweg) entscheiden können (und dürfen) – sondern dass wir immer gemeinsam an der für sie passend(st)en Lösung arbeiten. Hin zu einer selbstständigen, geglückten (und damit auch beglückenden) Lebensführung.

    Und dabei nie die simplen Fragen vergessen, die diesen Hilfeprozess meist so simpel ins Rollen bringen: „Wie geht’s dir?“ und „Was brauchst du?“


  • Aber eins bleibt: Hoffnung

    Aber eins bleibt: Hoffnung

    Jedem Ende wohnt ein Zauber inne. Oder wie heißt es noch bei Hesse? Gut, da ist vom Anfang die Rede. Und dessen Zauber. Aber manchmal birgt auch ein Ende etwas Magie in sich. Und die Chance, zu einem Anfang zu werden. Einem Neuanfang.

    So wie bei dem jungen Mann, den wir regelmäßig während unserer Straßensozialarbeit in der Nähe des Hauptbahnhofes treffen. Als wir ihn vor mehreren Wochen zum ersten Mal ansprachen, war er am Ende. Und dort saß er auch. Am Ende einer Mauer gegen die Wand gekauert, leerer Blick, heruntergekommen, das ganze Gesicht: Trauer.

    Verzweifelt erzählte er uns vom Tod seines Hundes. Seines geliebten Hundes, der viel mehr für ihn war als „bester Freund“: „Er war der einzige, der nicht über mich geurteilt hat, der mich nicht verurteilt hat. Er hat mich geliebt. So, wie ich bin.“ Doch nun war sein einziger Verbündeter gestorben. Krebs. Ende. „Er ist jetzt im Himmel. Da will ich auch hin. Dort sehe ich ihn wieder.“

    Das sind Momente, in denen Sprache versagt. In denen „wird schon wieder“, nicht hilft. Wo aber scheinbar banale Dinge helfen: Da sein. Zuhören. Eine Hand reichen. Empathie zeigen. Signalisieren: „Du bist nicht allein. Du bist wichtig, du bist wertvoll.“

    Und so gingen wir weiterhin auf ihn zu. Dankbar, dass er dies zuließ. Dass er sich nicht völlig zurückzog in seiner Trauer. Dass er uns vertraute, sich uns anvertraute. Kleine Schritte, manchmal klitzeklein. Aber so wichtig, um das Ende nicht gewinnen zu lassen.

    Und tatsächlich, nach und nach: In sein Gesicht kam wieder Leben, seine Haltung wurde aufrechter. Er erhielt Zuspruch, nicht nur von uns, sondern auch von anderen Obdachlosen. Er fand die Kraft, selbst wieder auf andere zuzugehen. Um Unterstützung zu bitten. Anträge für Grundsicherung auszufüllen. Neue Struktur in sein Leben zu bringen, was er vorher für seinen Hund „ganz automatisch“ gemacht hatte.

    Einige Wochen sahen wir ihn nicht. Machten uns Sorgen. Doch wieder ein Rückfall? Ins Ende? Nein, Im Gegenteil. Denn als wir ihn nun vor kurzem wieder antrafen, strahlte er uns schon vor weitem an. Erzählte von einem neuen Hund, den er, vermittelt über eine Bekannte bald bekommen würde. Und erzählte uns von Liebe. Vom Verliebtsein „in die tollste Frau“. Und baldigem Zusammenziehen „mit meinem Schatzi.“

    Das sind auch Momente, in denen Sprache versagt. In denen „oh, wie schön“, nicht ausreicht. Nicht ausreicht, um das Mitfreuen auszudrücken. Und um die Anerkennung auszudrücken, dass er diesen Weg für sich gewählt hat. Mit ein bisschen Hilfe zur Selbsthilfe. Weg vom Ende, hin zum Neuanfang.

    Einem Neuanfang, dem ein Zauber innewohnt.

    Maren Albetsen


  • Von Menschen und (Un)Menschlichkeit

    Von Menschen und (Un)Menschlichkeit

    Es war dieser eine Satz. Unser Gast sagte ihn am Ende unseres kleinen Klönschnacks vorm Gebäude der RELING. Er sagte ihn zweifelnd, tief verunsichert: „Ich bin doch ein Mensch, oder?“ Ein Satz, der bei uns, der RELING-Crew, hängenblieb. „Ja“, erwiderten wir sofort. Klar und deutlich. Aber so klar ist es eben offensichtlich nicht. Nicht für jeden. Denn nicht jeder hat sie verinnerlicht – diese simple, dafür umso wichtigere Wahrheit, die unser Leben erst zu einem Zusammenleben macht: Wir sind alle Menschen. Jeder einzelne von uns ist ein Mensch. Wir alle werden geboren mit der gleichen Würde. Einer unantastbaren Würde. Und doch erfahren unsere Besucher*innen immer wieder, wie ihre Würde angetastet wird, wie sie würdelos behandelt werden.

    „Geh doch arbeiten“ – das sei noch die harmloseste Bemerkung von Passanten, wenn er sie höflich um ein paar Cent bitte, so unser Gast. „Ich sage dann immer: Gerne. Sofort. Haben Sie denn Arbeit für mich?“

    „Du bist selbst Schuld an deiner Situation“, „Du bist halt faul, ein Schmarotzer“, „Wer auf der Straße lebt, will das so“, „Wer Drogen nimmt, hat sich einfach nicht im Griff“ – solchen Vorurteilen begegnen unsere Gäste leider immer wieder.

    Wir beraten und begleiten in der RELING Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Schwierigkeiten haben, ihr Leben in ihrem Sinne zufriedenstellend zu bewältigen. Es sind Obdachlose dabei, Suchtkranke, Arbeitslose, psychisch Kranke. Menschen, die nur einmalig Unterstützung benötigen genauso wie Stamm-Besucher, die zwischendurch mal auf einen Kaffee und ein kurzes Gespräch vorbeischauen. Sie alle wollen (und sollen) wahrgenommen, gesehen und gehört werden. Auf Augenhöhe.

    Denn: Unsere Gäste sind alle Menschen. Sie alle sind reich an Erfahrungen und Erlebnissen, reich an Fähigkeiten und Potenzialen. Sie bringen ihre Geschichten mit, lassen uns teilhaben – und wünschen sich umgekehrt meist auch vor allem das: Teilhabe. Etwas, das ihnen verwehrt wird, wenn sie von anderen beleidigt, stigmatisiert und respektlos behandelt werden.

    Dabei erwarten unsere Besucher*innen von ihren Mitmenschen meist gar nicht viel. „Nur ein bisschen Mitmenschlichkeit“, so unser Gast. Das muss nicht mal ein freundliches „Hallo, wie geht es dir?“ sein. „Mir reicht es schon, wenn jemand mir mal zunickt, mich anlächelt.“ Ein kleines, aber wertvolles Zeichen der Wertschätzung. Das Schlimmste, so unser Gast, sei deshalb für ihn, „wenn Passanten mich komplett ignorieren, wenn sie absichtlich wegschauen, mich ausgrenzen. Wenn sie so tun, als gäbe es mich nicht.“

    Das seien die Momente, in denen diese Frage auftauche. Die Frage nach Zugehörigkeit in dieser Stadt, in dieser Welt. Die Frage, ob man ein Mensch sei. Und wenn man darauf kein klares Ja hört? Was macht das mit einem? „Das ist ein Schmerz – den kriegt man aus dem Herzen nicht mehr raus.“

    Maren Albertsen


  • Warum RELING?

    Warum Reling?

    Eine Reling gibt Halt. Aber sie hält nicht fest. Sie bietet Schutz, wenn man ihn braucht. Aber sie beschwert einen nicht, zieht einen nicht runter. Man hat immer die Wahl: zugreifen – oder nicht. Zugreifen – und wieder loslassen.

    Das Fundament unserer RELING: Akzeptanz, Vertrauen, Neugier

    Drei Worte, die über allem stehen. Und gleichzeitig die Basis sind. Sie stehen für eine Grundhaltung in der Sozialen Arbeit. Und begleiten uns an jedem Arbeitstag.

    Akzeptanz – als bedingungslose Anerkennung unserer Gäste in ihrem „So-Sein“. In ihrem Eigensinn und ihrer Erwartungshaltung, ihrem Witz und ihrer Warmherzigkeit, ihrer Härte und ihrer Hartnäckigkeit. Alle Besucher*innen haben ihre Würde, die nicht antastbar ist. Was für uns daraus als Selbstverständlichkeit folgt? Eine Begegnung auf Augenhöhe, mit Respekt und Wertschätzung.

    Vertrauen – als unbeirrbarer Glaube daran, dass in jeder Situation die Chance zu einer Veränderung liegt. Zu einem ersten Schritt, zum Segel setzen Richtung Neuanfang. Vertrauen darin, dass unsere Haltung dazu beiträgt, dass auch unsere Gäste lernen zu vertrauen – und daraus neue Kraft schöpfen. Unsere Hand (bzw. unsere RELING) ist ausgestreckt. Jede*r ist willkommen „zuzugreifen“ und um unsere Hilfe zu bitten. 

    Vertrauen auch in uns als Team untereinander. Dass wir uns gegenseitig stützen und unterstützen, während unserer Arbeit aufeinander achtgeben. Vertrauen darin, dass immer jemand da ist, der ein offenes Ohr für uns hat. Dem wir auch erzählen können, wenn uns etwas belastet. Wenn wir uns um einen Gast besonders sorgen – oder wenn uns Erlebnisse traurig machen.

    Neugier – als ehrliches Interesse an und besondere Aufmerksamkeit für den Alltag und die Lebenssituationen unserer Besucher*innen. Für ihre Konflikte, ihre Sorgen, ihr Glück, ihre Fantasie. Für ihre Rückschläge, ihre Fortschritte, ihre Eigeninitiative. Und ihren Mut, bei uns um Hilfe und Halt zu bitten. Vielen Dank dafür!

    Akzeptanz, Vertrauen, Neugier – und Vorfreude auf jeden neuen Arbeitstag. Hier, bei der RELING.

    Maren Albertsen


RELING Anlaufstelle für Soziale Arbeit und Beratung

Niedernstraße 122, 20095 Hamburg

Tel.: 040/ 23 83 03 53

Mobil: 0151 551 518 53

Mail: kontakt@reling-hamburg.de

Postanschrift: RELING, Postfach 102402, 20016 Hamburg