Worum es geht

Worum es geht

Durch den Wind war sie. Völlig. Kein Wunder bei dem Sturm an diesem Tag. Aber der hatte damit gar nichts zu tun.

Eine junge Frau, höchstens Mitte 20. Zerbrechlich wirkte sie, fast schon zerbrochen. Begegnete uns zum Ende unserer StraSo-Runde, schien wie aus dem Nichts zu uns geweht worden zu sein. 

Gesehen hatten wir sie vorher noch nie. Sie hatte keine Muße für Smalltalk, keine Nerven für langsames Kennenlernen. Fasste aber zum Glück gleich Vertrauen. Und kam direkt zur Sache: Ob wir zufällig Gleitgel ohne Alkohol dabeihätten? Das mit Alkohol würde immer so brennen…

Sie brauche das Gleitgel dringend, denn: Seit einer Woche lebe sie auf der Straße, würde sich prostituieren.

Ja, wir wissen, dass so etwas passiert. Natürlich. Wir wissen, dass gerade Frauen auf der Straße besonders schutzlos sind, dass viele sexuelle Gewalt erfahren – und sich eben prostituieren. So etwas zu hören, tut trotzdem jedes Mal verdammt weh. Jede Betroffene ist eine zu viel.

Was wir aus Reflex am liebsten getan hätten: Ihr Halt gegeben, uns ihre ganze Geschichte angehört, alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie aus dieser Situation zu „retten“. Aber darum ging es ja nicht. Darum geht es nie bei der RELING.

Es geht nicht um das, was wir als Sozialarbeiter*innen wollen. Oder von dem wir denken, dass es „das Beste“ für andere wäre. Es geht immer um das, was unsere Gäste wollen. Was sie brauchen. Und an diesem Tag, bei der jungen Frau, war es das Gleitgel. Wieviel Mut und Kraft es sie wohl gekostet hat, uns darauf anzusprechen? Wir können es nur erahnen. Und wir sind unendlich dankbar, dass sie diesen Schritt, diesen ersten Schritt gewagt hat. Der bekanntlich der schwerste ist.

Auch andere Besucher kamen an diesem Tag auf uns zu. Mit ihren Anliegen, Sorgen, auch mit ihrer Wut. Darüber, „mal wieder“ beklaut worden zu sein. Nachts, auf der „Platte“, aber auch in Unterkünften von der Stadt, die ja eigentlich einen Schutzraum darstellen sollen, einen Raum, um sich (und seine Sachen) in Sicherheit zu wissen. „Alles nur bla bla bla“, kommentierte ein Betroffener. „Vorher hatte ich fast nichts, jetzt habe ich komplett nichts. Schönen Dank auch!“

Ein anderer Betroffener erzählte, dass er die Redewendung „Mein Hab und Gut“ immer gemocht habe, „weil das so klingt, als würde ich etwas haben, dass wirklich mir gehört – und dass das gut ist.“ Aber nach mehreren Jahren auf der Straße empfinde er den Ausdruck als Hohn, denn: „Ich muss jederzeit damit rechnen, dass mir das, was ich habe, weggenommen wird – und dass das niemanden interessiert.“  

Uns interessiert das. Und uns macht das auch wütend. Immerhin konnten wir ihn noch an eine Kleiderkammer verweisen, bei der er ein paar neue Turnschuhe in 46 („Meine Größe!“)  bekam. Da flossen Freudentränen: „Meine Schuhe wurden nämlich auch geklaut. Großer Fehler, die nachts auszuziehen! Und die, die ich jetzt trage, sind zwei Nummern zu klein…“

Zu klein, um wichtige Schritte zu gehen. Gut, dass die neuen Schuhe passen. Für Schritte in die richtige Richtung. Wo auch immer die liegen mag. Wir begleiten unsere Gäste gerne dabei. Nehmen Anteil, teilen Annahme.

Egal, wie stark der Wind weht.

Maren Albertsen

Symbolbild/Quelle:alte-schuhe1-scaled.jpeg (2560×1707)


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