Ein bisschen mehr Alles

Ein bisschen mehr Alles

Alles oder Nichts.

Manchmal steht nur ein Wort dazwischen. Manchmal geht es ganz schnell. Eine Krankheit, ein Verlust, ein Unfall – und alles, was zählt(e), ist weg: die große Liebe, der sicher geglaubte Job, das vertraute Zuhause. Was dann bleibt, ist ein großes Nichts.

Unsere Gäste wissen, wie sich das anfühlt. Plötzlich alles zu verlieren. Auf der Straße zu sein. Allein zu sein. Jeder Tag ein Kampf. Für sich selbst, oft auch gegen sich selbst. Jeder Tag ein Überleben – um irgendwann wieder zu leben.

So wie der junge Mann, der uns kürzlich das erste Mal besuchte. Aus Marokko stamme er, lebe aber schon länger in Hamburg: „Immer gearbeitet, immer alles normal.“ Aber vor ein paar Wochen: „Kam das Schicksal, kam ein Schlag, peng! Schicksalsschlag.“ Darum sei er „von jetzt auf gleich“ obdachlos und mit der Situation komplett überfordert. Vor allem mit der Bürokratie, von allem, was er jetzt erstmal machen muss, bevor er wieder etwas machen darf. Aber auch mit der Abwertung, die er im Alltag erlebt, dem Gefühl, nur noch eine Last zu sein. Nicht mehr dazuzugehören, zu den „normalen“ Menschen.

Doch zum Glück gibt es (noch?) „normale“ Menschen, denen das nicht egal ist. Die ihre eigenen Sorgen, ihren eigenen, vollgepackten Alltag haben – die aber trotzdem hinschauen. Die sehen, dass eine Politik der Vertreibung, Verdrängung und Verbote keine Probleme löst. Die durch kleine Taten einen großen Unterschied machen im Leben von Obdachlosen. Und die das Nichts damit für eine Weile vergessen machen.

So wie der Angestellte einer öffentlichen Toilette, der mit drei Gästen von uns, die zusammen „Platte“ machen, ins Gespräch gekommen ist. Er nahm sich Zeit, ihre Geschichte anzuhören. Genau, wie sie sich Zeit nahmen, seine Geschichte anzuhören. Jetzt lässt er sie umsonst die Anlage benutzen – die sie „natürlich!“ blitzblank hinterlassen.

„Wisst ihr eigentlich, was das für ein Geschenk ist, auf ein sauberes Klo gehen zu können?“, fragte uns die Frau des Trios kürzlich. „Das ist Lebensqualität. Aber sowas von!“ Sauberkeit ist ihnen generell sehr wichtig – gerade, weil sie auf der Straße schlafen. Deswegen haben sie sich auch einen Besen besorgt: „Wir putzen unseren Platz jeden Tag.“

Saubermachen, aufräumen, Müll rausbringen: Das macht jetzt auch ein weiterer RELING-Besucher öfter – und erhält dafür „mega“ Verpflegung von einem „echt korrekten Typen.“ Von dem hatte unser Gast zunächst allerdings nichts Gutes erwartet. Er hatte in der Nähe eines Cafés gesessen, vor sich einen Pappbecher, aber in sich kaum Hoffnung, dass dieser sich noch mit genügend Kleingeld für eine warme Mahlzeit füllen würde.

Denn die meisten Menschen gingen achtlos vorbei, einige murmelten Beschimpfungen vor sich hin, über „Gesindel“ und „Penner-Pack“, einer spuckte direkt vor seine Füße. Und dann kam der Café-Besitzer. „Ich dachte erst, er will mich vertreiben“, erinnert sich unser Gast, „doch stattdessen hockte er sich zu mir und fragte, wie es mir geht.“ So begann ein längeres Gespräch – auf Augenhöhe. Das mit der Absprache endete: „Kleine Hilfsarbeiten gegen Speis und Trank.“

Über solche Geschichten freuen wir uns sehr. Gerne würden wir noch mehr davon hören. Oder Szenen beobachten, wie die von den Wochenmärkten in der Nähe der RELING und in der Neustadt, wo ein Obdachloser schon seit längerer Zeit zuverlässig an einem Kaffeestand beim Auf- und Abbau hilft – was nicht „nur“ mit Geld entlohnt wird, sondern vor allem mit Selbstwirksamkeit, Anerkennung und Zugehörigkeit.

Das sind Begegnungen, die beide Seiten bereichern. Bei denen aus Problemen Lösungen werden. Ganz unbürokratisch, auf dem kurzen Dienstweg. Auf Basis gegenseitiger Wertschätzung.

Für weniger Nichts. Und für ein bisschen mehr Alles.

Maren Albertsen


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