Purzelbaum
„Nicht irritieren lassen. Einfach weitermachen.“
Leichter gesagt als getan. Schließlich stört es unseren Beziehungsaufbau zu Obdachlosen und Suchtkranken erheblich, wenn bei der Straßensozialarbeit plötzlich zwei Zivilpolizisten direkt neben uns eine sogenannte anlassunabhängige Personenkontrolle durchführen. So schnell kann mühsam erarbeitetes Vertrauen wieder dahin sein. Vielen Dank auch!
Nicht irritieren lassen – das sagten wir uns in den vergangenen Wochen öfter. Ein guter Rat, denn Irritationen gab es einige. Ja, es purzelte so manches durcheinander – und das lag nicht nur daran, dass wir als „obdachlose“ RELING ohne eigenes Büro zwischen Jobcenter und Bahnhofsmission hin- und herpendeln mussten. Vorwärts- und Rückwärtsrollen wechselten sich munter ab. Oder, wie eine Kollegin es formulierte: „Ich spüre gerade eine gewisse Dynamik.“
Rolle vorwärts: Petrus. Er hielt sich an den Deal, den eine RELING-Mitarbeiterin mit ihm vereinbart hatte: „Ich lass mich auf dem Hin- und Rückweg nassregnen, dafür bleibt es während der StraSo-Runde trocken.“
Rolle rückwärts: Der junge Mann, der uns beschimpfte und vor uns hinspuckte, als wir ihn freundlich ansprachen und auf das Hilfsangebot der RELING aufmerksam machten.
Rolle vorwärts: Eine ältere Frau, die uns nach längerer Zeit mal wieder besuchte, und die uns mit ihrem fröhlichen „Halloooo meine Kinder!“ begrüßte. „Guckt mal“, sagte sie und zeigte uns ihren frisch verpflasterten Mittelfinger. Auf die Frage, was denn da passiert sei, antwortete sie grinsend: „Ich habe zu tief in der Nase gebohrt.“
Rolle rückwärts: Ein um Fassung ringender Gast, dessen geliebter Hund vor kurzem gestorben war. Jetzt klammert er sich an die Hoffnung, „dass ich ihn irgendwann im Himmel wiederfinde.“
Rolle vorwärts: Ein Besucher, der freudestrahlend berichtete, dass er nach langem Pik As-Aufenthalt nun „eeeendlich“ eigene Unterkunft beziehen könne. Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Da könnt ihr dann ja mal mich besuchen…“
Rolle rückwärts: Es aushalten zu müssen, wie eine junge Frau, die wir schon länger kennen, bei jedem Treffen ein Stück mehr abgebaut hat. Von Mal zu Mal wird sie weniger. „Ich kenne nur vorwärts“ war mal ihr Motto. Jetzt scheint sie nur noch rückwärts zu kennen…
Rolle vorwärts: Der junge Mann, der erst seinen Kumpels gegenüber auf „cool“ machte, uns gegenüber dann aber schüchtern um Hilfe bat: „Ich traue mich nicht, meine Post zu öffnen. Rechnungen, Mahnungen und so. Ich habe Angst vor dem, was da drinsteht. Können wir das zusammen machen?“ Natürlich. Gerne.
Rolle rückwärts: Die „Bibel-Leute“, die wieder ausschwärmen. Ein christlicher Verein, unterwegs mit Bollerwagen, um Obdachlose zu ködern – mit schwammigen Versprechungen auf „Heilung“, aber natürlich erst nach gemeinsamen Gebeten und Taufe in der Alster. Halleluja. So viel zum Thema bedingungslose (Nächsten-)Liebe!
Aber wir bleiben entspannt: Nicht irritieren lassen. Weitermachen. Bedingungslos.
Bei der RELING kann eben alles passieren. Mal im Guten, mal im Schlechten. Und vielleicht waren die vielen Purzelbäume auch einfach nötig: Einmal alles kräftig durcheinanderschütteln, damit alles wieder seinen Platz findet.
So wie wir jetzt in der Niedernstr. 122. Unser neuer Heimathafen. Kommt uns doch mal besuchen!
Maren Albertsen