Echt jetzt

Echt jetzt

Tränen. Echt jetzt? Echt jetzt.

Dabei hatten wir den Mann, der uns kürzlich zum ersten Mal in der RELING besuchte, doch nur freundlich begrüßt, ein bisschen geschnackt und gefragt, ob er zum Kaffee noch eins von den Lunch-Paketen haben möchte, die wir freitags anbieten. Doch zu einer Antwort war er nicht fähig. Stattdessen begann er zu weinen.

Hatten wir etwas falsch gemacht? „Nein, nein“, sagte er beschämt. Er wäre nur gerade etwas überfordert. Von unserer Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Davon wahrgenommen und gehört zu werden. „Das passiert mir momentan nicht oft.“

Seit er „aus Gründen“ auf der Straße gelandet ist, fühle er sich meistens unsichtbar. „Und das sind dann schon die guten Tage.“ An schlechten Tagen werde er mit verachtenden Blicken angeschaut oder beschimpft, einmal wurde er auch bespuckt. Warum? Weil er da ist. 

Weil sein Leben draußen stattfindet, zurzeit dort stattfinden muss – und sich viele Menschen das Recht herausnehmen, ihn dafür abzuwerten und zu verurteilen. Weil er oft mit der U-Bahn fährt und dort nach Kleingeld fragt. Weil er mit müffelndem Schlafsack und dreckiger Isomatte unterwegs ist, obwohl er doch bis April ins Winternotprogramm könnte.

Dort war er auch. Für drei Nächte, dann hielt er es nicht mehr aus. Er ist nicht der Einzige, der von Problemen dort berichtete, von Läusen und Krätze, Klauerei und Gewalt. Weshalb viele Obdachlose – wie jedes Jahr – trotz Kälte, Schneematsch, Sturm, Dauerregen die Straße vorgezogen haben.

Abschreckend sei nicht „nur“ das Elend auf engem Raum und die dadurch angestauten Aggressionen. Abschreckend sei auch, jeden Morgen wieder „rausgeschmissen“ zu werden.  Oder, wie ein anderer Besucher es formulierte: „Was hilft eine Bleibe, in der man nicht bleiben darf?“ Und die keinerlei Perspektive bietet: Wir haben noch von keiner unserer Besucher*innen gehört, dass sie nach Ende des Winternotprogramms in eine Unterkunft vermittelt werden konnten. „Bald bleibt uns – wieder – nur die Straße.“

Und was uns bleibt, ist Unverständnis. Gegenüber einer halbherzigen Bekämpfung von Symptomen – anstelle einer Beendigung von Ursachen. Aber hey, immerhin müssen wir jetzt nur noch sechs Jahre lang jammern: Die EU will Obdachlosigkeit bis 2030 schließlich abschaffen.

Haha, genau – man wird ja noch träumen dürfen…

Doch die Realität ist eher ein Alptraum. Von einem Masterplan gibt es keine Spur. Bleibt zu hoffen, dass die beschlossenen Pläne von der Sozialbehörde und dem Bezirk Mitte zur Umgestaltung des Drob-Inn-Vorplatzes und zur Bereitstellung von 16 Übergangswohnungen für Obdachlose in Niendorf zumindest ein Anfang sind.*  

Ach, wie schön das wäre, endlich von weiteren, nachhaltigen Maßnahmen sprechen zu können. Vom großen Wurf der Regierung. Bis es soweit ist, startet die „RELING“ schon mal einen kleinen Wurf – Richtung Akzeptanz und Mitmenschlichkeit.

Und wenn bei Besucher*innen mal Tränen kullern müssen, müssen sie kullern – da muss sich keiner schämen. Echt jetzt.

* https://www.hinzundkunzt.de/hauptbahnhof-weitere-verbote-hilfsangebote-obdachlose-drob-inn/

Maren Albertsen

Symbolbild / Quelle: standard__1120x840 (1120×840) (zeit.de)


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