Hinschauen

Hinschauen

Ich sehe dich.

Ich sehe dich: Wie du plötzlich schneller gehst, als du mich am Boden entdeckst. Wie du beschämt wegschaust, während du an mir vorbeieilst. Wie du dir innerlich zuredest: „Das ist nicht mein Problem, da sollen sich andere kümmern.“

Ich sehe dich: Wie du weghörst, als ich freundlich „Moin“ sage. Wie du gedanklich schon bei deiner Familie bist, zu Hause, wo es warm und trocken und sicher ist. Wie du dich innerlich fragst: „Wieso muss der mir das Heile, was ich habe, jetzt kaputt machen?“

Ich sehe dich: Wie du genervt mit den Augen rollst, als du mich wahrnimmst. Wie du verärgert den Kopf schüttelst, während du mich links liegen lässt. Wie du innerlich fluchst: „Jeden Tag mehr von diesen Pennern!“

Ich sehe dich: Wie du blitzschnell ein Urteil fällst, als dein Blick mich streift. Wie dein ganzer Körper Verachtung schreit, als du „aus Versehen“ meine Tüte mit Pfandflaschen umkickst. Wie du mich innerlich anbrüllst: „Du Abschaum, hau ab hier!“

Aber ich habe nichts, wohin ich abhauen kann. Ich sehe dich. Jeden Tag. Hunderte von dir.

Ich sehe dich. Wie du glaubst, mich bewerten zu dürfen, abwerten zu dürfen. Wie du glaubst, du seist besser als ich, und ich sei schlechter als du – weil ich auf der Straße lebe. Und weil ich Halt manchmal nur an der Wodka-Flasche finde.

Ich sehe dich. Wie du glaubst, meine Geschichte zu kennen: Keine Disziplin, zu viel gesoffen, Drogen genommen, nicht mehr zur Arbeit gegangen, Schulden gemacht, aus der Wohnung geflogen. Wie du glaubst, sagen zu dürfen: „Du bist selbst schuld!“

Ich sehe dich. Wie du dir einredest, die Lösung liege auf der Hand: Nichts mehr trinken, neue Arbeit suchen, neue Wohnung suchen. Zackzack. Wie du glaubst, sagen zu dürfen: „Du bist einfach faul!“ Oder: „Du willst ja gar nichts ändern.“

Ich sehe dich. Wie du nur deine Wahrheit gelten lässt. Wie meine Wahrheit für dich keine Berechtigung hat. Wie du nicht hören willst, dass ich nie eine Chance hatte, nie bedingungslose Liebe erfahren habe. Dass ich kein schützendes Zuhause hatte, nie Unterstützung hatte.

Wie du nicht hören willst, dass mein individuelles Problem auch ein strukturelles Problem ist. Dass Verhalten und Verhältnisse sich wechselseitig bedingen. Dass das auch dich etwas angeht.

Ich sehe dich. Wie du die Augen davor verschließt, wie oft ich gefallen bin, wie oft ich gestoßen wurde – und wie oft ich mich trotzdem wieder aufgerappelt habe. Wie du nicht erkennst, dass ich unendlich müde bin. Weil ich Tag für Tag ums Überleben kämpfe, mein Bestes gebe. Wie du mich abgestempelt hast, mich für nutzlos hältst, nicht an mich glauben willst.

Ich sehe dich. Wie ich für dich kein Teil dieser Gesellschaft bin – und mir deiner Meinung nach deshalb auch keine Teilhabe zusteht. Wie ich für dich nur Dreck bin. Wertlos, würdelos. Unsichtbar.

Ich sehe dich.

Siehst du mich auch?

Maren Albertsen

Symbolbild/Quelle: 00000000-0003-0004-0000-000002675177_w1600_r1.4531365313653137_fpx46_fpy93.jpg (1600×1101) (spiegel.de)

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