Wahrheiten

Wahrheiten

Wie viel Leben passt in einen Koffer? Da musste einer unserer Besucher neulich nicht lange überlegen: „Also bei mir mein ganzes.“

Wumms. Worte, die mitten reingingen, ins Herz. Dabei stimmten sie nicht ganz: Unser Gast zog nämlich nicht nur einen abgewetzten Rollkoffer hinter sich her, er trug auch noch eine kleine Sporttasche mit sich. Darin: zwei Kuscheltiere. Oder, wie der Besitzer es knapp formulierte: „Meine Familie.“

Wumms. Noch mehr Schmerz fürs Herz. Doch unser Gast sah das eher pragmatisch. Das Leben im Koffer, die Lieben in der Tasche. „So habe ich immer alles griffbereit. Alles, was ich habe. Und alles, was ich brauche.“

Er sagte es leicht dahin, mit einem fröhlichen Lächeln. Ob aufgesetzt oder echt – wir wissen es nicht. Aber das ist für unsere Arbeit auch nicht von Bedeutung. Fassade darf bei uns echt sein. Solange wie nötig. Wir lassen jedem in seinem So-Sein, negieren die Wahrheiten unserer Gäste nicht.

Denn ihre Wahrheiten sind nicht das kleinste Fitzelchen weniger berechtigt als unsere. Tröstende Wahrheiten, schützende Wahrheiten, beruhigende Wahrheiten. Es steht uns nicht zu, diese Wahrheiten zu zerstören. Es steht uns umso mehr zu, da zu sein und Scherben aufzukehren – falls  eine Wahrheit zerbricht. 

Wie die Wahrheit von Sicherheit: Dem Glauben daran, sich in seiner Stadt sicher fühlen zu können, sich seiner wenigen Habseligkeiten sicher fühlen zu können. Wenigstens das! Für die meisten unserer Gäste gilt diese Wahrheit leider nicht.

Immer häufiger hören wir Geschichten von Besuchern, die nicht „nur“ (mal wieder) geschmacklos bepöbelt, sondern auch (gleich mehrfach) beklaut wurden. Mal Papiere weg, mal der Rucksack, mal die Schuhe. Ja, die Schuhe. Im Schlaf! Zack, von den Füßen gezogen: „Ich hoffe nur, die hat ein noch ärmeres Schwein genommen…“

Achselzuckendes Hinnehmen von diesem Alltag(skampf) auf der Straße – und in vielen Notunterkünften. In denen Not nicht verjagt, sondern höchstens verwaltet wird.

„Man braucht halt immer einen Hut“, fasste es ein anderer Besucher zusammen. Nicht wütend, nicht anklagend. Sondern resigniert. Und meinte: „Man muss halt immer auf der Hut sein.“

Eine traurige Wahrheit. Die für die Sozialpolitik und einen Großteil der Gesellschaft aber okay zu sein scheint. Weil diese Wahrheit sie selbst nicht betrifft. Und weil die Betroffenen nicht aufmucken. Sie haben keine Lobby, werden nicht gesehen, nicht gehört.

Wäre es aber nicht schön, wenn diese Wahrheit niemanden mehr beträfe? Wenn Obdach- und Wohnungslose durch ein Klima des Respekts und des Miteinanders wirklich frei wären?  Frei von Unsicherheit, Gewalt, Schutzlosigkeit?

Die Reling hält Kurs. Doch bis das Ziel erreicht ist, gilt für unsere Gäste: Lieber alles dabeihaben, immer. Das Leben in einen Koffer packen, die Familie in eine Tasche. Dazu ein Kopf voller Erinnerungen. An schönere Zeiten. Und ein Herz voller Hoffnung. Auf eine bessere Zukunft.

Maren Albertsen

Symbolbild / Quelle: 28456447-ein-obdachloser-mensch-schiebt-einen-beladenen-einkaufswagen-2eKnnIUbbdfe.jpg (1100×619) (fr.de)

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