„99 Problems“
So stand es auf seiner Mütze. Tief zog unser Besucher sie neulich ins Gesicht, Wärme suchend, während Sturmböen samt Schauern über Hamburg hinwegfegten. „99 Problems“.
„Passt zu mir, oder?“, fragte er augenzwinkernd. „Weil du so viele Probleme hast – oder weil du so viele machst?“, fragten wir augenzwinkernd zurück. Und bekamen als Antwort: Stille. Zögern. Überlegen. Schließlich, selbstkritisch: „Ich glaube, das lässt sich nicht immer trennen.“
Nein, sicherlich nicht. Verhältnisse und Verhalten – oft bedingt es sich gegenseitig. Wenn die wichtigsten, die lebenswichtigsten Bedürfnisse und Bedarfe kaum gedeckt sind, wenn das Leben „halt einfach blöd zu einem ist“ – dann „bin ich halt manchmal auch blöd zum Leben.“ Ein Kreislauf, in dem viele unserer Gäste feststecken.
Ein Kreislauf, der nicht leicht zu durchbrechen ist. Erst recht nicht allein. Umso wichtiger für uns, dass die RELING ihrem Namen gerecht wird. Dass sie Halt bietet, dass Besucher*innen sich an ihr festhalten und Kraft tanken können. Dass dabei Zeit und Raum für Gespräche bleibt. Fürs Hinschauen und Hinhören, fürs Vermitteln und Verweisen, fürs Aufpassen und Aufhelfen. Für ein Füreinander und Miteinander.
Wertvolle Erfahrungen, die uns alle bereichern – Gäste genauso wie Mitarbeiter*innen. Was uns besonders freut, nach rund einem Dreivierteljahr RELING: Dass immer mehr Besucher*innen nicht „nur“ zu uns kommen, weil sie „Problems“ haben und Unterstützung benötigen. Sondern auch, weil sie uns als vertrauenswürdig empfinden, als Vertraute. So soll es sein: Vertrauen schenken, Vertrauen erhalten. Noch ein Kreislauf – aber einer, in dem wir gerne feststecken.
Zu uns kommen Menschen mit den verschiedensten Anliegen. Sie alle sind reich an Erfahrungen und Erlebnissen, an Fähigkeiten und Potenzialen. Sie bringen ihre Geschichten mit, lassen uns eintauchen in ihre Wirklichkeit, ihre Wahrheiten – manchmal auch ihren Wahn. Nein, das ist nicht immer einfach. Vor allem dann nicht, wenn viele Emotionen im Spiel sind.
Umso wichtiger für uns als Mitarbeiter*innen, dass wir uns immer wieder zentrieren und uns unserer eigenen Gefühle und Reaktionen bewusst sind. Der britische Psychologe und Psychotherapeut John Heron nennt in diesem Zusammenhang die hilfreichen Formeln „Be here now“ und „Be there now“: Nur wer ganz „hier“ (bei sich selbst) ist, kann auch ganz (bei anderen und für andere) „da“ sein.
Und genau das wollen wir ja: Für andere da sein, sie beachten und achten. In ihrem „So-Sein“, in ihrer individuell eingerichteten (Lebens-)Welt. Sie machen diesen großen Schritt auf uns zu, öffnen sich und lassen uns teilhaben – und wünschen sich auch vor allem das: Teilhabe.
Da kann übrigens jeder von uns etwas zu beitragen, denn jeder kann ein bisschen Wertschätzung und Wärme abgeben. An die Menschen, die gerade besonders frieren – selbst, wenn sie so eine Mütze wie unser Besucher tragen… Denn die Probleme, diese 99 Probleme „die machen einen von innen kalt“, wie er uns erklärte. „Aber keine Sorge“, erzählte er lachend weiter und straffte die Schultern, „gestern stand da noch „100 Problems“ – ich bin also auf einem guten Weg.“
Ein Weg, den du nicht allein gehen musst. Wir sind da.
Maren Albertsen